12. Juli 2025

SMART CIRCULAR BRIDGE: Bio-basierte Brücke als Musikinstrument

Brücke aus Flach in Ulm
Architektin Hanna Dahy © Proesler Kommunikation

Ulm (pm) – In Ulm wurde eine kleine Brücke ihrer Bestimmung übergeben. Sie ist der Schlussstein in dem EU-geförderten Forschungsprojekt „Smart Circular Bridge“ und zeigt das Potenzial schnell nachwachsender Rohstoffe für Klimaschutz und Kreislaufwirtschaft im Bauwesen – und darüber hinaus. Zugleich überrascht sie die Passanten als Musikinstrument und lenkt mit ihrer Klangkunst den Blick auf Innovationen in puncto Nachhaltigkeit.

Passanten achten selten auf die Straßen oder Brücken, über die sie gerade laufen. Das ist in Ulm anders. Durch Klangkunst erleben sie, wie eine Brücke in der Ulmer Altstadt über die „Kleine Blau“ unweit des berühmten Münsters auf sie reagiert. Sie hören ihre eigenen Schritte, und hören, wie die Brücke bei unterschiedlicher Belastung oder Temperaturveränderungen klingt. So macht das Stuttgarter Atelier für auditive Kommunikation „Klangerfinder“ ein Forschungsprojekt spielerisch und sinnlich erfahrbar – direkt vor Ort und auch aus der Ferne per Internet unter www.flachsbruecke-ulm.de

Möglich wird das mit Hilfe von 42 Sensoren, die in der Brücke verbaut sind. Sie dienen in erster Linie der Materialforschung für das EU-Projekt „Smart Circular Bridge“ und seinem neuartigen Werkstoff aus Flachsfasern und einem bio-basierten Polyesterharz. Die Sensoren überwachen das Bauwerk und liefern genaue Daten über den Werkstoff im täglichen Einsatz. Auf Basis der Sensordaten und mathematischen Berechnungen übersetzen die „Klangerfinder“ die Schritte von Passanten in unterschiedliche Töne. Mit ihrem Soundkonzept laden sie dazu ein, die Brücke als Musikinstrument zu nutzen und die Auswirkungen von Gewicht und Temperaturveränderungen in Echtzeit zu hören.

Zurück in die Zukunft: Traditioneller Flachs als innovativer Baustoff

Auf der Suche nach schnell nachwachsenden Rohstoffen für die Bauwirtschaft gerät ein altes Material wieder in den Blickpunkt: Flachs ist eine der ältesten Kulturpflanzen der Welt und gilt als äußerst strapazierfähig und reißfest. Aus den Fasern der Pflanze sowie einem Polyesterharz mit 25-prozentigem Bio-Anteil haben Forschende in den Niederlanden einen hochstabilen Verbundwerkstoff entwickelt. Der Flachsfaserverbund ist in seinen Eigenschaften Stahl oder Beton ähnlich, aber flexibler einzusetzen. Die Kombination aus Festigkeit und Steifigkeit bei gleichzeitig geringem Gewicht verleiht dem korrosionsbeständigen Bioverbundwerkstoff viel Potenzial im Bauwesen. Die Brücke in Ulm wiegt lediglich fünf Tonnen, kann aber 24 Tonnen tragen. Die leichte Bauweise und die nachwachsenden Rohstoffe sorgen für einen verkleinerten CO2-Fußabdruck.

Erste befahrbare Brücke aus dem neuen Baustoff

Was mit bio-basierten Baustoffen schon heute möglich ist, zeigt das EU-Projekt „Smart Circular Bridge“. Das Projekt wird von der Technischen Universität Eindhoven in Zusammenarbeit mit 14 Projektpartnern geführt und erforscht den Bioverbundwerkstoff für einen kreislauforientierten Brückenbau. Nach ersten Versuchen in den Niederlanden mit Fußgängerbrücken entstand in Ulm als zukunftsweisender Projektabschluss die erste befahrbare „Smart Circular Bridge“. Für diese Brücke wurden das Verbundmaterial und die Konstruktion weiterentwickelt. Als weltweit erste Brückenkonstruktion besteht die Brücke vollständig aus Flachsfasern, die mit einem bio-basierten, ungesättigten Polyester verstärkt sind. Sie ist für Fahrzeuge bis zu 12 Tonnen ausgelegt und kann daher auch von Wartungsfahrzeugen befahren werden. Das Projekt führt zwei bedeutende Innovationen ein: die Skalierung von Bioverbundwerkstoffen auf eine funktionale Verkehrsbrücke und die wirtschaftliche Verwendung des bio-basierten Polyesterharzes. Diese Kombination positioniert die Brücke als Pionier für bio-basierte Materialien in der Infrastruktur. Mit Blick auf die Kreislaufwirtschaft wird im EU-Projekt „Smart Circular Bridge“ auch untersucht, welche Optionen sich für den Baustoff ergeben, wenn die Brücken nach vielen Jahrzehnten das Ende ihrer Nutzungsdauer erreicht haben.

Vakuuminjektion mit bio-basiertem Harz

Die Brücke besteht aus dem erneuerten Unterbau, einer Brückenplatte und dem beidseitigen Brückengeländer. Dessen ausgefallenes Design nimmt Bezug auf das Geländer der ersten „Smart Circular Bridge“ im niederländischen Almere und geht zurück auf die Architektin Hanaa Dahy aus der Stuttgarter Forschungsgruppe „Biobasierte Materialien und Stoffkreisläufe in der Architektur“ (BioMat): Ein per Roboter kunstvoll gewickeltes Geflecht aus Flachsfasern wird von Edelholzpfosten gestützt, die auch den Handlauf tragen. Das Edelholz stammt von einer alten, abgebrochenen Brücke in Ulm und findet hier eine neue Nutzung. Die freitragende Fußgänger- und Radfahrerbrücke mit einer Spannweite von 8,5 Metern hat eine Breite von 5,34 Metern und eine Gesamtlänge von 9 Metern. Die Brücke wiegt weniger als 100 kg/m² und ist damit konkurrenzfähig zu glasfaserverstärkten Konstruktionen, aber deutlich leichter als eine vergleichbare Stahl- oder Betonbrücke. Der eigentliche Brückenkörper besteht aus unterschiedlich gestalteten Einzelkomponenten. Für das Sandwich-Deck wurden Flachsfasermatten mit Vierkantbalken aus recyceltem PET-Schaum belegt und mit flüssigem bio-basierten Polyesterharz im Vakuum verpresst und verklebt. Die Bodenplatte sowie acht Hauptträger und drei Querspanten in U-Form wurden ebenfalls aus Flachsfasermatten hergestellt und mit dem Harz vergossen. Nach der Herstellung wurden die Einzelteile miteinander zu einem Brückenkörper zusammengesetzt und verklebt. Ein robustes Beschichtungssystem sorgt für den Schutz der Flachsfasern und sichert deren Langlebigkeit und Haltbarkeit.

„Smart Circular Bridge“

„Smart Circular Bridge“ ist der Name eines EU-Projekts zur Nutzung eines neuartigen Kompositmaterials auf Basis von Flachsfasern und bio-basiertem Harz in Bauwerken und tragenden Strukturen. Unter der Führung der Technischen Universität Eindhoven erforscht ein internationales und multidisziplinäres Projektteam aus fünf Universitäten, sieben Unternehmen und drei Gemeinden die Anwendung des neuen Baustoffs im Brückenbau. Das EU-Projekt wurde von Interreg NWE gefördert, weil es drei übergeordnete Stategien der EU bündelt: die Klimaschutzstrategie, die Kreislaufwirtschaftsstrategie und die Strategie zur Entwicklung bio-basierter Werkstoffe. Alle drei Strategien haben in Deutschland ihre Entsprechungen auf Bundes- und Landesebene. In dem EU-Forschungsprojekt wird der neue Flachsverbundbaustoff an zwei Brückenbauten erprobt und das Material in seinem Verhalten unter realistischen Einsatzbedingungen beobachtet. Ein Monitoring-System mit intelligenten Glasfaser- und Bewegungssensoren in der Brückenkonstruktion liefert Informationen über Verformungen und Umwelteinflüsse in Echtzeit. Die Auswertung der Daten erfolgt mit Hilfe künstlicher Intelligenz, um Muster im Materialverhalten zu erkennen. Die Messdaten können auf einer öffentlichen Webseite eingesehen werden.

Projektbeteiligte an der Brücke in Ulm

  1. Ingenieurwesen und Produktion: Technische Universität Eindhoven/NL, Witteveen+Bos, Delft Infra Composites B.V., Breukelen/NL
  2. Prüfingenieur: Dipl.-Ing. Heller Dieter Ingenieurbüro für Bauwesen, Ulm
  3. Architektur: BioMat GmbH, Stuttgart
  4. Sensoren: Com&Sens, 24SEA, Nazareth/BE
  5. Geländer: FibR GmbH, Fellbach
  6. Fasern: Bcomp Ltd, Fribourg/CH
  7. Harz: Polynt Group, Varese/IT
  8. Beschichtungen: De IJssel Coatings B.V., Moordrecht/NL
  9. Transport: E. Lafeber Internationale Transporten B.V., Gouda/NL
  10. Stadt Ulm
  11. Klangkunst: Klangerfinder – Atelier für auditive Kommunikation, Stuttgart
  12. Kommunikation: Proesler Kommunikation, Tübingen

Klangkunst

Die Daten der Sensoren von der Brücke in Ulm werden in Klangkunst überführt. Der Link zum Anhören und Ausprobieren sowie zu Hintergrundinformationen zur Klangkunst und zur Brücke: www.flachsbruecke-ulm.de

Kostenstruktur

Kosten der „smart circular bridge“ für die Stadt Ulm 680.000 €.

Der Betrag setzt sich folgendermaßen zusammen:

  • Sanierung des Unterbaus: 180.000 €. Erforderlich, da erst nach dem Abbau der alten Brücke die Schäden am Unterbau und Widerlager festgestellt werden konnten.
  • Herstellung der ersten, nicht funktionsfähigen Brücke: 135.000 €.
  • Herstellung des Geländers und Planung: 140.000 €.
  • Wiederholung des Brückenbaus: 320.000 €.
  • Fertigstellungskosten (Einhub, Anschlussflächen): 55.000 €.
  • Abzüglich EU-Fördermittel in Höhe von 150.000 €.

Kosten einer konventionellen Brücke aus Stahlträgern mit Holzbelag: 530.000 €.

Die Kostendifferenz gegenüber einer konventionellen Brücke beträgt 150.000 €. Dies entspricht einer Kostensteigerung von 28 Prozent.

Quelle: Smart Circular Bridge/Proesler Kommunikation

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