17. Juni 2024

Zeichen des Widerstands: Semperpreis 2024 für Roger Boltshauser

Roger Boltshauser. Foto: Michael Artur König

Dresden (pm) – „Nur wenige Architekten besitzen heute genug Widerstandskraft, sich den momentan angesagten Trends und pragmatischen Zwängen zu entziehen.“ (Jurybegründung Semperpreis 2024). Der Schweizer Architekt Roger Boltshauser gehört zu ihnen. Er wird mit dem Semperpreis 2024 der Sächsischen Akademie der Künste ausgezeichnet.

Mit Roger Boltshauser würdigt die Akademie einen Architekten, der sich schon seit Ende der 1990er Jahre mit nachhaltigen Baumaterialien und innovativen Energiekonzepten beschäftigt hat. Bekannt ist er unter anderem für die Verwendung des über lange Zeit vergessenen Materials Lehm geworden, das er auch in größeren und komplexen Bauten auf verschiedene Weise einsetzt und mit anderen Materialien kombiniert.

Sein Credo, aus dem Streben für Nachhaltigkeit Architektur zu machen, ist umfassend gedacht und beginnt für ihn mit der Qualität des Entwurfs. Boltshauser sucht gemeinsam mit seinem Büro und seinen
Studenten nach neuen Strategien für eine Architektur, die angenommen wird, bewohnbar und flexibel ist und die verschiedenen Tendenzen überleben kann. „Wir können Antworten geben, die wegen der Klimafragen plötzlich Chancen bekommen, die sie vorher nie hatten.“ (Roger Boltshauser, UDK Tuesday 236)

Neben seiner Tätigkeit als Architekt ist Boltshauser seit über 20 Jahren in der Lehre und Forschung aktiv und bringt seine Themen praxisorientiert an seinem Lehrstuhl an der ETH Zürich ein. „Er ist ein Baumeister im traditionellen Verständnis dieses Begriffs. Er erschafft Bauwerke, deren Bedeutung weit über die Befriedigung temporärer Bedürfnisse hinausreicht und Sinn stiftet. Sie zeigen, was Architektur heute sein kann.“ (Jurybegründung Semperpreis 2024)

Roger Boltshauser

Roger Boltshauser, geboren 1964 in Zürich, ist ein diplomierter Architekt, der seine Ausbildung zunächst von 1988 bis 1990 an der Hochschule für Technik und Architektur in Luzern und anschließend von 1991 bis 1995 an der ETH Zürich absolvierte. Im Jahr 1996 gründete er in Zürich das Architekturbüro Boltshauser Architekten AG und war gleichzeitig als wissenschaftlicher Mitarbeiter am Institut für Geschichte und Theorie der Architektur (gta) der ETH Zürich tätig. Von 1997 bis 1999 unterstützte er Peter Märkli als Entwurfsassistent an der ETH Zürich und an der EPFL Lausanne.

Zwischen 2004 und 2010 lehrte er an der Hochschule für Technik und Wirtschaft HTW in Chur und von 2005 bis 2009 war er Dozent im Masterstudiengang an der Hochschule Anhalt Dessau (DIA) im Studio Chur Institute of Architecture (CIA). Seine berufliche Anerkennung wurde 2007 durch die Berufung in den Bund Schweizer Architekten (BSA) weiter gefestigt. Von 2011 bis 2014 war Boltshauser als Experte für Entwurf und Konstruktion an der Hochschule Luzern tätig und von 2012 bis 2018 engagierte er sich als Mitglied der Stadtbaukommission der Stadt Luzern.

Weitere Lehraufträge nahm er als Gastprofessor von 2016 bis 2017 an der EPFL Lausanne und von 2017 bis 2018 an der TU München wahr. Von 2018 bis 2022 war er Mitglied des Baukollegiums der Stadt Zürich. Im Jahr 2021 expandierte er mit der Eröffnung eines Zweitsitzes seiner Firma, der Boltshauser Architektur GmbH, nach München. Seit 2022 ist er Mitglied des Baukollegiums in Berlin und hält seit demselben Jahr auch den Lehrstuhl für Entwurf und Konstruktion sowie das Forschungslabor an der ETH Zürich.

Jurybegründung

Das Werk von Roger Boltshauser ist sehr vielschichtig und facettenreich. Er ist Architekt und Künstler. Er ist Lehrer, Konstrukteur und Forscher. Die genannten Bereiche seiner Tätigkeit betreibt er nicht voneinander isoliert, sie gehen in seinem Werk nahtlos ineinander über. Sie ermöglichen ihm, die Welt aus unterschiedlichen Blickwinkeln zu betrachten und zu untersuchen. Sie beeinflussen sich, reichern sich gegenseitig an und folgen doch ihren eigenen Gesetzmäßigkeiten. Die Vielschichtigkeit der Interessen von Roger Boltshauser spiegelt sich in der Vielschichtigkeit seiner Arbeiten, die sich nie auf eine einfache Erklärung reduzieren lassen. Daher sind seine Bauten – bei aller Präzision und Sorgfalt in der Planung und in der Ausführung – sehr komplex. Für den Außenstehenden sind sie oft anstrengend, sie wirken sperrig. Sie folgen nicht den gängigen ästhetischen Konventionen und entziehen sich so einer oberflächigen Betrachtung: Man muss sich mit ihnen auseinandersetzen.

Roger Boltshausers Werk umfasst ausdruckstarke Bauten, Zeichnungen, bildhauerische Reliefs sowie die Erforschung von neuen und alten Konstruktionsmethoden, die er in seinen Bauten anwendet. Er hat kontinuierlich an verschiedenen Universitäten unterrichtet und engagiert sich in Gremien, die Architektur und Städtebau gewidmet sind. Die Fragen der Nachhaltigkeit sind genauso wie soziale Fragestellungen ein unverzichtbarer Bestandsteil seiner Arbeit. Was dabei wichtig ist: Sie werden als architektonische Fragestellungen aufgefasst und führen zu neuen, ungewöhnlichen städtebaulichen, konstruktiven, typologischen und formalen Lösungen. Die Formensprache seiner Bauten ist bei aller Sachlichkeit persönlich und unverwechselbar und entwickelt sich aus den Gegebenheiten des jeweiligen Projektes.

Man kann seine Arbeitsweise gut am Beispiel verschiedener Projekte nachvollziehen, die er für die Anwendung von Stampflehm entworfen und gebaut hat. Die Eigenschaften dieses heute selten benutzten Materials führen zu einer spezifischen Bauweise, die den heutigen industriellen Konstruktionsmethoden widerspricht und die, wenn man ihr folgt, zu einer ungewohnten Formensprache und zu einem anderen Charakter der Bauwerke führt. Ihr archaisch wirkendes Erscheinungsbild, die Tektonik und die ins Auge springende Massivität resultieren nicht primär aus einem vorgefassten Formwillen, sondern ergeben sich zum wesentlichen Teil aus konstruktiven Gesetzmäßigkeiten bei der Verwendung des Materials. Eine gewisse Verwandtschaft mit historischen Bauten entsteht nicht durch Nachahmung, sie ist durch verwandte Konstruktionsmethode bedingt. Roger Boltshausers Arbeit mit Stampflehm belegt zugleich die bereits erwähnte Breite seiner Interessen: Um heute mit Stampflehm arbeiten zu können, hat er historische Bauten untersucht und dokumentiert, er hat die Eigenschaften des Materials erforscht und neue Konstruktionsmethoden entwickelt. Sie ermöglichen ihm, auch große und komplexe Bauwerke aus Stampflehm zu konstruieren. Was aber am wichtigsten ist: Die Bauten bewältigen nicht bloß die komplexen konstruktiven und typologischen Zusammenhänge, sondern übersetzen sie in ausdruckstarke Architektur, die unabhängig von allen Rahmenbedingungen für sich selbst steht.

Natürlich beschränkt sich Roger Boltshauser beim Bauen nicht auf Stampflehm. Auffällig ist vielmehr das breite Spektrum der angewandten Materialien und Konstruktionsmethoden und auch der unterschiedlichen Größen der Projekte. Das Spektrum reicht hier von Umbauten und Privathäusern bis zu großen öffentlichen Projekten, Städtebau und Projekten für private Investoren. Was die Projekte bei aller Unterschiedlichkeit verbindet, ist die Entwurfsmethodik mit starkem Bezug zum Material und Konstruktion. Jedes Projekt ist Teil einer umfangreichen architektonischen Recherche, die mit folgenden Projekten fortgeführt wird. Wie jeder bedeutende Architekt hat er sein eigenes formales Repertoire entwickelt, das er immer unterschiedlich, projektbezogen einsetzt.

Die unauflösliche Verbindung von Ort, Typus, Material, Konstruktion und Form, die sich in Roger Boltshausers Bauten manifestiert, kann man als ein Zeichen des Widerstands, als einen Versuch verstehen, der Beliebigkeit und Eindimensionalität vieler heutiger, allein auf Marketing und Wirtschaftlichkeit ausgerichteten Projekte zu entkommen. Sie stellt eine nostalgiefreie Rückkehr zu überzeitlichen Eigenschaften von Architektur dar. In diesem Sinne ist Roger Boltshauser mehr als nur ein Architekt, der außergewöhnliche Gebäude plant. Er ist ein Baumeister im traditionellen Verständnis dieses Begriffs. Er erschafft Bauwerke, deren Bedeutung weit über die Befriedigung temporärer Bedürfnisse hinausreicht und Sinn stiftet. Sie zeigen, was Architektur heute sein kann.

Moderne Architektur war einst der Ausdruck einer kritischen Haltung der Geschichte, der Gesellschaft und den Bedingungen architektonischen Arbeit gegenüber. Im Tagesgeschäft ist von dieser kritischen Haltung sehr wenig erhalten geblieben. Nur wenige Architekten besitzen heute genug Widerstandskraft, sich den momentan angesagten Trends und pragmatischen Zwängen zu entziehen. Mehr als die Trends zu hinterfragen, bestätigen sie diese, folgen ihnen und suchen die Rettung in bloßer Erfüllung gegebener Vorgaben oder in einer vermeintlich originellen formalen Lösung, die am Ende doch nur die Konvention bestätigt.

Roger Boltshauser erhält den Semperpreis 2024 der Sächsischen Akademie der Künste, weil sein Werk ein Beweis dafür ist, dass die kritische Haltung möglich und mehr denn je notwendig ist. Sie ist in der Lage, einen wichtigen Beitrag zu Lösung heutiger Probleme zu leisten, Neues zu schaffen und unverwechselbare, eigenständige Bauwerke in die Welt zu setzen. Sie kann Architektur verändern und mit ihr auch unser Leben sowie unsere Sicht der Welt.

Eine Auswahl von Roger Boltshausers Werken

Haus Rauch
Schlins, Österreich, 2004‒2008

Beim Haus Rauch, das mit dem Lehmbauer Martin Rauch als Bauherr als ein gebautes Experiment angelegt war, konnte das Material für die dreigeschossigen Stampflehmwände zu hundert Prozent an Ort und Stelle aus dem Aushub gewonnen werden. Das Ziegeldach liegt ganz hinter der darüber hinausragenden Mauerkrone versteckt, weshalb als konstruktive Schutzmaßnahme gegen die Verwitterung die Lehmwände durch Lagen von leicht auskragenden, eingelegten Tonplatten stabilisiert werden. Die Ziegellagen betonen die horizontale Schichtung der Wand und beleben mit der Licht- und Schattenwirkung die raue Oberflächentextur. Neben dem Fehlen eines Dachs irritieren an diesem Bau die großen Öffnungen in den Lehmwänden, die ohne sichtbaren Sturz ausgebildet sind. Auf der stofflich-atmosphärischen Ebene schafft die Raumfolge im Innern einen Verlauf, der vom Roh-Archaischen zu glatten, edlen Oberflächen aus unterschiedlichen Lehmmaterialien buchstäblich aufsteigt. Von den Böden über die Wand- und Deckenverputze, die Treppenstufen, die Hourdisdecke sowie die Fliesen und Waschbecken bis zu den Duschkabinen wurde alles in großer kunsthandwerklicher Sorgfalt aus Erdmaterial gestampft, gebrannt, gepresst, gestrichen, gespachtelt oder gegossen.

Ofenturm für das Ziegelei-Museum
Cham, Schweiz, 2017–2020

Das Projekt für das weltweit erste vorgespannte Lehmgebäude basiert auf einer Semesterarbeit aus dem Entwurfskurs von Roger Boltshauser an der TU München (2017–2018) und wurde an der ETH Zürich weiterbearbeitet. Auf dem Areal der Ziegelhütte in Cham sollte ein neuer Turm mit einem Ofen errichtet werden, in dem wieder Ziegel gebrannt werden können und auf dem sich in rund acht Metern Höhe eine
Aussichtsplattform befindet. Jedes Stampflehmelement steht auf einer Holzplatte, auf welcher es im Werk gestampft, transportiert und zuletzt vor Ort verbaut wurde. An die Platte wurde bauseits ein Wetterschenkel montiert, der den Lehm vor dem Auswaschen schützt. Die Gewindestäbe der Vorspannung sind beidseitig vor den offenen Fugen zwischen den Lehmblöcken angebracht, wodurch die Spannköpfe gut zugänglich sind. Außerdem ist das Vorspannsystem leicht zu lösen und die Elemente sind einfach zu demontieren, so dass, falls die Auflage, den Turm nach zehn Jahren vollständig zurückzubauen, zum Tragen kommt, alle Materialien recycelt oder wiederverwendet werden können.

Hochhaus H1 Zwhatt-Areal
Regensdorf bei Zürich, Schweiz, 2019–2025

Das rund 75 Meter hohe Hochhaus H1, das momentan höchste hybride Holzhochhaus der Schweiz, ist Teil des Entwicklungsareals Zwhatt in Regensdorf. Der massive Sockel bildet mit markanten, über drei Geschosse führenden Betonstützen einen Tisch und ist mit einer Wand aus einer Trasskalk-Lehmmischung verkleidet. Darauf steht ein filigraner Holzbau mit einem aussteifenden Erschließungskern aus Beton, der über 150 Einheiten an unterschiedlichen Wohnungstypen aufnimmt. Die Materialisierung der Innenräume der Wohnungen ist bewusst roh und einfach gehalten, die Holz-Beton-Verbundkonstruktion der Decken sowie die tragenden Holzpfosten bleiben sichtbar.
Die filigrane Metallfassade weist allseitig horizontal auskragende Photovoltaikelemente auf, die einen sehr hohen Ertrag ermöglichen und zugleich schützen sie als Brise-soleil die Innenräume vor Überhitzung und ermöglichen eine gute Tageslichtnutzung.

Sport- und Schwimmzentrum Oerlikon
Zürich, Schweiz, 2020–2028

Das neue Schwimm- und Sportzentrum in Oerlikon umfasst zwei Eishallen, ein Sprung- und ein Wettkampfbecken sowie ein Freizeit- und ein Lernschwimmbecken, die übereinandergestapelt und über ein gemeinsames Foyer und eine rue intérieure erschlossen sind. Die oberirdische Gebäudestruktur ist als Holzbau ausgebildet, was dem Ziel Ausdruck verleiht, die CO2-Emissionen zu minimieren. Vorgespannte Brettschichtträger spannen in der Horizontalen bis zu 45 Meter und nur die Knoten bei den Stützenanschlüssen, welche die Vorspannungen aufnehmen, sind aus Beton. Die langgezogene Fassade des Gebäudes ist in horizontale Bänder gegliedert: das Hallenbad im Erdgeschoss wird über raumhohe Verglasungen belichtet, während das darüberliegende Band mit einer Schale aus einer Trasskalk-Lehmmischung verkleidet ist, die beinahe textilartig wirkt. Oben schließt eine Art filigranes Kranzgesims aus Photovoltaik-Elementen die Fassaden ab, das von zylinderförmigen Lehmtürmen getragen wird, die der Entfluchtung und Entlüftung sowie als thermische Wasserspeicher dienen.

Quelle: Sächsische Akademie der Künste