20. April 2024

„Wir müssen weg vom Maschinenbild einer technikgetriebenen Klinik – Healing Architecture ist eine nachhaltige Investition in das Gesundheitssystem“

audacity architecture talks 2021 / Organismus Krankenhaus nach Covid-19, vlnr Andreas Frauscher, Siegfried Gierlinger, Beate Czegka, Heinz Ebner, Sylvia Hartl, Richard Klinger, Michael Kerbler (c) Architects Collective ZT-GmbH Wien

Wien (pm) – Transdisziplinäres Forum für brisante gesellschaftliche Fragen der Architekturplanung startet mit der Gesprächsrunde „Organismus Krankenhaus nach Covid-19“, moderiert von Michael Kerbler.

Die erste Ausgabe der neuen Gesprächsreihe „audacity architecture talks“ – initiiert durch Architects Collective an der Schnittstelle Architektur und Gesellschaft – bringt die Vision zukünftiger Kliniken auf die Bühne und möchte die gesundheitsförderliche Wirkung der Healing Architecture in den öffentlichen Diskurs bringen. Denn, so eröffnet Moderator Michael Kerbler, „das räumliche Erleben hat Einfluss auf das Wohlbefinden, sodass Heilung und Genesung gelingen kann und das Personal eine hohe Arbeitszufriedenheit hat.“

Eine Frage der Würde

„Wie wollen wir in Zukunft gemeinsam und aus ganzheitlicher Sicht für erkrankte Menschen sorgen?“, fragt Michael Kerbler in die Runde und ergänzt: Die Frage ist „ethisch-moralisch grundiert, es geht um die menschliche Würde, um Respekt und um die Rahmenbedingungen kurativer Medizin, um die bestmögliche Betreuung erkrankter Menschen, das `Dasein´ von Patient:innen – und jenen, die sie umsorgen.“

Im Sinne einer betriebs- und volkswirtschaftlich nachhaltigen Gesundheitspolitik diskutieren Expert:innen aus Architektur, Medizin, Pflege, Krankenhausmanagement und Beratung mögliche gemeinsame Wege, Nutzen und Ziele einer gesundheitsförderlichen räumlichen Gestaltung und deren Leistbarkeit von Gesundheitsbauten.

Healing Architecture – mehr als Oberfläche

Healing Architecture vereint Planungsprämissen, die durch die Gestaltung von Licht, Luft, Ausblick, Freiraum, Bezug zur Natur, Akustik, Materialität, Farbe, Orientierung und Geruch eine gesundheitsförderliche Umgebung für das physische und psychische Wohlbefinden von Patient:innen und Personal herstellen sollen. Andreas Frauscher, CEO Architects Collective weiß, wie wichtig es ist, „die Errichtungskosten mit den laufenden Kosten in Relation zu setzen. Mit der Investition in Healing Architecture erreiche ich kürzere Spitalsaufenthalte, eine höhere Personalzufriedenheit und weniger Krankenstände – aus betriebs- und volkswirtschaftlicher Sicht ist es zu begrüßen, wenn ich damit Geld sparen kann.“

Die Pandemie habe in der Bevölkerung „ein Bewusstsein geschaffen, dass das Krankenhaus nicht nur ein Kostenfaktor ist, sondern es gesellschaftlich wichtig ist, Geld in die Hand zu nehmen, um ein technisch top-funktionierendes Krankenhaus mit Healing Architecture zu errichten – in Verbindung mit lokalen Versorgungszentren,“ so Frauscher.

Richard Klinger, CEO Architects Collective, spitzt zu: „Healing Architecture ist eine nachhaltige Investition in das Gesundheitssystem.“ Und erklärt näher: „Dieser Zugang hängt mit Materialien zusammen, aber auch mit der baulichen Struktur, wieviel Tageslicht etwa zur Verfügung steht, das Themenfeld kann man nicht auf einen Vorhang und den Bodenbelag reduzieren, das geht bis in die Grundstruktur eines Gebäudes.“

Nachhaltige Gestaltung des räumlichen Wohlbefindens

Dass dabei nicht subjektive Fragen des Geschmacks verhandelt werden, vielmehr mit evidenzbasierten Erkenntnissen der jungen Forschungsdisziplin Healing Architecture für das räumliche Wohlbefinden Verantwortung getragen wird, untermauert auch Primaria Sylvia Hartl, Vorständin der Lungenabteilung der Klinik Penzing Wien: „Das Investment in das Patienten-Wohl kommt in zehnfacher Weise zurück.“

Auch Beate Czegka, Pflegevorständin der Tirol Kliniken GmbH ist überzeugt: „Ein Healing Environment können wir aus der Sicht der Pflege nur unterstützen. Wir kommen oft drauf, dass sich vieles rechnet und es gar nicht soviel mehr kostet mit Healing Architecture zu planen. Wenn wir diese Überlegungen in der Planung von Anfang an machen, ist es weniger teuer, als nachträglich Um- oder Zubauten zu machen.“

„Nicht alles, was mit Healing Architecture zu tun hat, kostet mehr Geld. Wichtig ist, dass man sich frühzeitig in der Planung mit dem Thema auseinandersetzt, ein Konzept entwickelt und dafür Mittel bereitgestellt werden. Wir als Architekten können dafür ein Bewusstsein schaffen,“ so Richard Klinger.

Die Krux an der Sache: Healing Architecture ist als heilungs- und genesungsförderliches Wissen unter Expert:innen zwar vorhanden, gerät im Planungsprozess aber meist schnell ins Hintertreffen. „Das Bewusstsein dafür, dass Healing Architecture gleich wichtig ist wie Technik und Funktion, ist noch nicht ganz da. Die Technik gewinnt immer,“ sobald der Rotstift ins Spiel komme, weiß Klinger aus rund 30-jähriger Erfahrung.

Organismus Krankenhaus und die Ökonomie

Sylvia Hartl gibt zu bedenken: „Ein Krankenhaus ist etwas Organisches, wo Organismen zur Gesundheit gebracht werden; es ist ein flexibler Ort, ein Genesungsort mit einem ethischen Auftrag. Und ein Krankenhaus hat immer einen Konflikt mit der Ökonomie – und muss natürlich auch ökonomische Ziele erfüllen.“

Siegfried Gierlinger, technischer Direktor des Universitätsklinikums AKH Wien, fügt hinzu: „Ein Krankenhaus unterliegt ständiger Veränderung, es ist ein lernender Organismus. Wir bräuchten Möglichkeiten schneller zu bauen, Veränderung sollte schneller passieren können. Und wir brauchen für die Versorgung der Patient:innen mehr Bereiche für menschliche Begegnungen, die durch eine Healing Architecture geprägt sind.“

Heinz Ebner, Geschäftsführer und Partner der BDO Health Care Consultancy versucht ein Zwischenresümee: „Das Ziel einer zukünftigen Klinik sollte Mikro-Flexibilität sein, ein „Atmenkönnen“ in größeren Einbettzimmern, Lagerflächen, mit Skalierungsmöglichkeiten von Bereichen, wo ich in Notfällen wie einer Pandemie Ressourcen ballen kann.“ Gierlinger gibt zusätzlich zu bedenken: „Wir haben bauliche Ressourcen, die Healing Architecture kriegen wir auch zusammen, aber der größte Engpass ist nach wie vor das Pflegepersonal.“

Vom Maschinenbild zur Kultur wohltuender Interaktion

Zurück zur Technik. „Niemand WILL ins Krankenhaus, niemand will sich in eine Maschine legen, wir müssen weg vom Maschinenbild einer technikgetriebenen Klinik,“ bringt es Heinz Ebner auf den Punkt. „Wir müssen eine neue Kultur schaffen, eine Kultur der wohltuenden Begegnung und Interaktion in Gesundheitsbauten.“

Letztlich gehe es vor allem zu Anfang der Planung um Haltungsfragen, um eine Haltung, die den ethischen Auftrag der Heilung und Genesung erfüllt und mit den wirtschaftlichen Zielen einer Klinik in Einklang bringt. Heinz Ebner versucht die Investitionsfrage inmitten höchstkomplexer Anforderungen zu vereinfachen: „Man muss wie überall abwägen, also wieviel gebe ich für die Maschine aus, und wieviel für das Wohlbefinden. Man muss den Mut haben zu sagen, vielleicht weniger Nutzfläche, dafür ein bisschen mehr Wohlfühlen.“

Zeit für Diskussion & Reflexion

Gelingen könne das, wenn vor dem Start der eigentlichen Planung ausreichend Zeit und Commitment zur Diskussion von Vision und Nutzen eines Gesundheitsbaus für und durch die Stakeholder eingeräumt werden. Heinz Ebner ermuntert: „Solche Diskussionen muss man führen und in einen konstruktiven Prozess bringen, es darf auch gestritten werden. Das braucht Zeit, Geld und Nerven.“ Denn, so Ebner weiter: „Es muss sichergestellt sein, dass es Reflexionsprozesse gibt, dass Menschen sich Zeit nehmen. Dafür müssen Ressourcen da sein, das ist der Einstieg in die Geschichte. Bei Planungsprozessen vermisse ich das meistens.“

Alles also (r)eine Ressourcenfrage? Siegfried Gierlinger bekräftigt: „Die Projektabwicklung ist Zeit- und Kosten-getrieben. Qualität ist der dritte Pfeiler der Planung, wenn die Qualität stimmt, ist die Zeit nicht ganz so wichtig, bei den Kosten wird es schwierig. Aber ich muss die Diskussion zulassen können und zuhören. Wenn ich etwas Neues baue, dann erwarte ich von den Beteiligten, dass man die Kreativität zulässt.“

Gierlinger schärft etwas nach: „Die Kommunikation mit den Nutzer:innen, insbesondere der Pflege, muss man zulassen, sodass sie ihre Wünsche und Anforderungen formulieren dürfen und dann muss man schauen, was geht sich aus, was kann ich erfüllen und mit welchen Werten und Materialien.“

Patientenorientierung im Fokus der Planung

Heinz Ebner schlägt vor, Healing Architecture zunächst einmal sprachlich zugänglich zu machen: „Wir sollten das Thema in konkrete Bedürfnisse übersetzen, in ihre Kategorien runterbrechen: eine gute Orientierung, Autonomie über Licht und Helligkeit, wie spielt sich Begegnung ab, wenn mich jemand besuchen kommt, also den Fokus zurück auf die Patient:innen bringen, das halte ich für ganz wichtig.“

Patientenorientierung im Klinikbau gibt es seit den 1990ern, „da wurde ein Pflänzchen für die Wohlfühlaspekte gesetzt, das inzwischen verduftet ist“, meint Ebner. Aber: „Die Grundsituation von Patient:innen ist ein Gefühl des Ausgeliefertseins. Das Bedürfnis für sich sein zu können, selbst die Privatsphäre zu bestimmen, der Zugang zur Welt, die Kommunikation nach außen zu den Liebsten, also Selbstbestimmtheit und Autonomie im Krankenhaus, das sind alles Komponenten, die man baulich wesentlich unterstützen kann.“

Die pointierte Frage einer Livestream-Zuschauerin liefert der Diskussion einen hilfreichen Twist: „Woran merke ich als Patientin, dass ich in einem ethisch gebauten und geführten Krankenhaus bin?“ Dazu Medizinerin Hartl: „Indem ich merke, dass ich mit meinen Problemen im Haus richtig war und sie zu einem gewissen Grad gelöst wurden; dass ich mich wohl und geführt gefühlt habe – und auch weiß, wie es nach der Entlassung weitergeht.“

Ein Commitment für die ethisch gebaute Klinik

Michael Kerbler fasst zusammen: „Gefordert sind neben der Rückbesinnung auf die Patientenorientierung mehr Diskussion und Reflexion. Das klingt nach einem gemeinsamen Partizipationsmodell in der Startphase eines Projektes?“ Richard Klinger stimmt zu: „Es muss im Vorfeld des Planungsprozesses mehr diskutiert werden.“ Sylvia Hartl betont: „Wir müssen uns zum lernfähigen Organismus Krankenhaus committen, wir müssen mitwachsen, sonst verschlafen wir die Innovation, wie sich die bestehende Struktur weiterentwickeln kann.“ Und Kerbler setzt nach: „Es ist auch ein Appell an die Architektur, Vorfeldforschung zu betreiben.“

Diese erste Gesprächsrunde von audacity architecture talks schafft damit eine Grundlage und gleichzeitig eine Willensbekundung, mit Verbündeten in einer Peergroup öffentlich weiter zu diskutieren, um die ethische Planung im Sinne der Menschenwürde und für räumliches Wohlbefinden im Gesundheitswesen nach den Prämissen der Healing Architecture voranzubringen – freilich mit dem übergeordneten Ziel einer ethisch geplanten Klinik, die sich als lebendiger Organismus ständig verändern kann, muss und wird.

 

Über den Titel audacity architecture talks

Im Titel der Gesprächsreihe – mit dem Begriff Audacity – steckt einerseits Kühnheit, Wagemut, auch etwas Dreistigkeit, die im transdisziplinären Dialog für gemeinsame gesellschaftspolitische Ziele wachsen soll – andererseits stellt es den Bezug zu „audio“ (= ich höre) her, mit dem erklärten Willen dem anderen zuzuhören.

 

Pressemitteilung: Architects Collective