29. März 2024

Service-Wohnen für Senioren – eine vielseitige Herausforderung für Architekten

Von Martin Linz, Geschäftsführer TERRAGON PROJEKT GmbH

Martin Linz, Geschäftsführer TERRAGON PROJEKT GmbH (c) Terragon AG

Berlin (pm) – Wie baut man ein Wohnhaus, das man nicht bauen kann wie ein Wohnhaus? Diesem scheinbaren Widerspruch sehen sich Architekten und Planer im Bereich des Service-Wohnens für Senioren gegenüber: Einerseits geht es um ansprechenden und modernen Wohnraum im besten Sinne – andererseits um funktionelle Service- und Begegnungsflächen für die weiteren Angebote in der Wohnanlage. Da meist größere Projekte, oft sogar ganze Quartiere geplant werden, sind zudem Architekten, Innenarchitekten, Stadtplaner und Garten- und Landschaftsarchitekten gleichermaßen gefragt, ein ästhetisch ansprechendes und zudem funktionelles Gesamtensemble zu entwerfen.

Die konkrete Aufgabe besteht daher wie so oft zunächst darin, eine Vielzahl von Anforderungen miteinander in Einklang zu bringen. In vielen Aspekten ähneln Service-Wohnanlagen einem Hotel, andererseits sind sowohl die Wohnräume als auch die Gemeinschafts- und Begegnungsflächen so zu gestalten, dass Menschen sich länger als ein paar Tage oder Wochen wohlfühlen. Dennoch – ein weiteres Aber – muss auch der ästhetisch-ambitionierte Architekt sich im Zweifelsfall daran orientieren, dass es um ein Investmentobjekt geht. Entsprechend klar können die Vorgaben des Bauherrn zu Flächeneffizienz und Baukosten sein – während Anwohner und Kommune auf eine möglichst hohe Bauqualität und einen sensiblen Umgang mit der umliegenden Bebauung pochen.

Aber mündet dieses Gegenüber von unterschiedlichen Ansprüchen zwangsläufig in eine Aneinanderreihung unausgegorener Kompromisse? Die Antwort lautet nein, denn gelungene Praxisbeispiele beweisen, dass es auch anders geht. Dass gute sowie zeitgemäße Architektur, eine angemessene Würdigung der Umgebung und individuelle Ansprüche der Bewohner sich nicht ausschließen.

Gelingt es, die skizzierten Konflikte durch kluge Lösungen miteinander zu versöhnen, kann eine Service-Wohnanlage sogar mehrere wichtige Funktionen erfüllen. Im Idealfall bildet sie einen wichtigen Baustein zur Verbesserung der Versorgungssicherheit vor Ort, indem sie demografiefesten Wohnraum schafft. Und gleichzeitig kann ein solches Projekt trotz strikter formeller Vorgaben – exemplarisch: 150 Einheiten mit Wohnflächen um 65 Quadratmeter, zwei Wohngemeinschaften und eine auf Tagespflege spezialisierte Abteilung nebst den jeweils benötigten Serviceflächen – einen nennenswerten Beitrag zur Baukultur leisten.

Zertifizierung liefert Leitfaden für Architekten

Auf dem Weg dorthin bieten sich Architekten einige Orientierungshilfen, die über den normalen Wohnungsbau hinausweisen. Eine der wichtigsten ist das „Klassifizierungssystem zur Beurteilung von Angeboten des Servicewohnens für Senioren“ der gif Gesellschaft für Immobilienwirtschaftliche Forschung. Dieser Leitfaden richtet sich einerseits an potenzielle Nutzer sowie deren Angehörige und soll die Suche nach einem geeigneten Wohnangebot für Senioren erleichtern. Andererseits dient das System jedoch Projektentwicklern, Investoren und Betreibern dazu, ihre Projekte zielgenau auf die Erfordernisse vor Ort auszurichten. Dazu listet die Aufstellung Dutzende Kriterien auf, die Architekten konkret bei der Planung berücksichtigen können, und die je nach Ausgestaltung über die Zuordnung der Einrichtung in das von Hotels gewohnte Fünf-Sterne-System entscheiden – vom überdachten Eingang über die Größe der Empfangshalle bis zur Breite und Beleuchtung der Flure.

Schon in der frühen Planungsphase lässt sich daraus eine Checkliste ableiten, die eine fruchtbare Diskussion mit dem Bauherrn und ein sinnvolles Qualitätsmanagement unterstützt: Muss eine separate Rezeption eingeplant werden? Ist eine Tiefgarage mit direktem Aufzug zu den Wohnbereichen gewünscht? Sollen die Flure tagesbelichtet sein und über ertastbare Wegebezeichnungen verfügen?

Dabei hat das gif-System bei aller notwendigen Kleinteiligkeit einen entscheidenden Vorteil, der eine freie Gestaltung und flexible Kompromisse ermöglicht: Bekäme eine Anlage in einer Kategorie beispielsweise nur drei Sterne, kann dies durch eine Erfüllung höherer Kriterien in einer anderen Kategorie ausgeglichen werden. Das zugrundeliegende Punktesystem lässt sich dementsprechend zielgerichtet umsetzen, sodass für die Gesamtanlage dennoch die Vier-Sterne-Vorgaben erfüllt werden. Diese flexible Basis ermöglicht, je nach Konzept und Standort auf einzelne Merkmale zu verzichten, um wiederum andere in den Entwürfen ausdrücklich zu betonen – Raum für eine echte Gestaltungsleistung, der sich beispielsweise bei Hotelneubauten häufig nicht in diesem Umfang eröffnet.

Service-Wohnen mit Mehrwert für das Quartier verbinden

In Abstimmung zwischen den unterschiedlichen Disziplinen und zwischen Planern und Bauherr lassen sich daher auch Gebäude mit architektonischer Relevanz realisieren. Ein zentraler Aspekt ist in diesem Zusammenhang das Raumangebot, das die Wahrnehmung einer Service-Wohnanlage sowohl aus Sicht der Nutzer als auch der Anwohner maßgeblich prägt. Ein gutes Beispiel dafür ist das Restaurant: In einer klassischen Pflegeeinrichtung meist als kantinenartiger Raum konzipiert, erlaubt eine Anlage mit separaten Wohnungen die Öffnung nach außen. Entsteht statt einem rein funktionalen Speiseraum ein reguläres Lokal, das allen offensteht, kann sich ein sozialer Begegnungsraum entwickeln, von dem das gesamte Quartier profitiert. Auch weiteren Synergien stehen keine prinzipiellen Hindernisse im Raum: Ladenflächen etwa, die zusätzlich in die Nachbarschaft ausstrahlen, sind je nach Standort durchaus wünschenswert. Und niemand dürfte ernsthaft den Mehrwert für die Nachbarschaft bezweifeln, wenn direkt vor Ort ein Tagespflegeangebot entsteht, das pflegende Familien entlastet und älteren Anwohnern erlaubt, in ihrem gewohnten Umfeld zu bleiben.

Aus architektonischer und stadtplanerischer Perspektive ist es jedoch am wichtigsten, den einzelnen Standort in seiner gewachsenen Erscheinung und Struktur in die Planungen einzubeziehen. Hochwertige Außenanlagen, positive städtebauliche Impulse, ästhetische Lösungen für ein zeitgemäßes Wohnen aller Generationen – spannende Aufgaben für Architekten bietet eine Service-Wohnanlage zuhauf. Wenn sich Bauherr und Architekt ihrer Verantwortung bewusst sind, können sie einen essenziellen Beitrag zur zukunftsgerechten Weiterentwicklung unserer Städte leisten. Denn dass in den kommenden Jahren und Jahrzehnten verstärkt seniorengerechte Wohnanlagen entstehen werden, steht außer Frage. Umso wichtiger ist es, dass die Fachwelt sich in diese Transformation mit all ihrer Expertise und ihrer Gestaltungskraft einbringt – und vermeintliche Konflikte durch gute Architektur auflöst.

 

Text: Von Martin Linz, Geschäftsführer TERRAGON PROJEKT GmbH