13. Oktober 2025

QNG-Zertifizierung: Vom reinen Energiesparen zur ressourcenschonenden Bauweise

Gastbeitrag – Verena Sommerfeld, Inhaberin von Sommerfeld Energieberatung, im Interview.

Verena Sommerfeld
© Verena Sommerfeld

Frau Sommerfeld, warum rückt die Lebenszyklusanalyse (LCA) beim Neubau immer stärker in den Fokus, und was hat es mit dem Qualitätssiegel Nachhaltiges Gebäude (QNG) auf sich?

Die Diskussion um nachhaltiges Bauen hat sich in den vergangenen Jahren deutlich verschoben. Früher lag der Fokus fast ausschließlich auf dem Energiebedarf im laufenden Betrieb, heute wird verstärkt der gesamte Lebenszyklus eines Gebäudes betrachtet. Genau hier setzt die Lebenszyklusanalyse (LCA) an: Sie erfasst nicht nur den Betrieb, sondern auch die vorgelagerten Prozesse wie Rohstoffgewinnung, Herstellung, Transport und die Rückbau. Auf diese Weise wird sichtbar, dass manche Baustoffe zwar gute Dämmwerte aufweisen, jedoch bei der Produktion erhebliche Mengen CO2 verursachen. Das staatliche Qualitätssiegel Nachhaltiges Gebäude (QNG) greift diesen Gedanken systematisch auf. Es schreibt eine LCA als verbindlichen Bestandteil vor und bewertet die ökologische Qualität eines Gebäudes über alle Lebensphasen hinweg – von der Konstruktion bis zur potentiellen Wiederverwertung von Materialien. Auch unabhängig vom QNG-Siegel ist die LCA mittlerweile ein zentrales Förderkriterium: Wer im Rahmen der KfW-Förderung ein „Klimafreundliche Wohngebäude“ bauen will – mit oder ohne QNG – muss eine Lebenszyklusanalyse durch einen zugelassenen Energieeffizienz-Experten vorlegen.  

Warum ist das relevant? Laut Umweltbundesamt entfallen rund 40 Prozent der energiebedingten Treibhausgasemissionen in Deutschland auf den Gebäudesektor – also auf Bau, Nutzung und Rückbau. Selbst wenn  hocheffiziente Heizsysteme oder erneuerbare Energien eingesetzt werden, bleiben erhebliche Emissionen aus Materialproduktion und Bauprozessen bestehen. Wer also die Energie- und Stoffströme ganzheitlich analysiert, kann eine realistische Klimabilanz aufstellen und vermeiden, dass allein die Betriebsphase optimiert wird. Für Architekturbüros ist das mehr als nur eine technische Methode: Die LCA verändert die Planungslogik, weil sie Materialwahl, Konstruktionsprinzipien und Rückbaubarkeit in den Fokus rückt. Das QNG-Zertifikat verbessert darüber hinaus den Zugang zu zinsvergünstigten Förderprogrammen (z.B. “Klimafreundlicher Neubau mit QNG”)  und signalisiert gegenüber Bauherren, Investoren und Behörden, dass ein Projekt umfassend zukunftsfähig aufgestellt ist. Gleichzeitig formuliert die Politik zunehmend den Anspruch, dass Neubauten nicht nur effizient, sondern auch ressourcenschonend und kreislauforientiert geplant werden. Das QNG schafft dafür einen verlässlichen Rahmen und rückt die reale Dekarbonisierung des Bauens ins Zentrum.  

Wie gestaltet sich die LCA praktisch in der Planungsphase, und welche Rolle spielen digitale Werkzeuge dabei?

In der Praxis ist die Lebenszyklusanalyse (LCA) längst mehr als ein theoretisches Werkzeug: Sie wird bereits in frühen Planungsphasen angewendet – etwas um Varianten in Bezug auf Materialien, Konstruktionen und technische Systeme zu bewerten. So können Architekten gemeinsam mit Fachplanern verschiedene Varianten durchrechnen. Energieeffizienz-Experten nutzen dazu spezialisierte Software, in der Bauteile digital erfasst und mit Umweltkennwerten aus Datenbanken wie der ÖKOBAUDAT verknüpft werden. Dabei lassen sich Treibhausgasemissionen (GWP) und der Verbrauch nicht erneuerbarer Primärenergie (PENRT) über alle Lebenszyklusphasen hinweg berechnen – von der Herstellung über den Betrieb bis zum Rückbau. Diese Daten sind nicht nur für die eigene Planung hilfreich, sondern bilden auch eine verpflichtende Grundlage für den Fördernachweis im Rahmen der Programme zum “Klimafreundlichen Neubau”. Digitale Werkzeuge wie Building Information Modeling (BIM) können diesen Prozess unterstützen, da viele Bauteile bereits geometrisch erfasst und mit technischen Informationen hinterlegt sind. Wird das BIM-Modell mit Ökobilanzierungsdaten ergänzt – etwa durch Schnittstellen zu LCA-Tools -, lassen sich Varianten direkt vergleichen. Etwa: Wie wirkt sich ein Massivbau aus Beton im Vergleich zu einer Holz- oder Hybridkonstruktion auf die CO2-Bilanz aus? Oder: Inwieweit verbessert Recyclingbeton das Ergebnis?  

Das verändert die Planungsweise erheblich. Während früher primär nach Kosten und  bauphysikalischen Kennwerten  entschieden wurde, fließen nun auch Umweltwirkungen in die Bewertung ein.  

Diese Umstellung ist anspruchsvoll, denn nicht alle Beteiligten – etwa Baufirmen oder Produktlieferanten – liefern von Anfang an belastbare Daten. Auch Architekturbüros benötigen oft neue Routinen und Schulungen. Trotzdem lohnt sich der Mehraufwand: Eine fundierte LCA sorgt für bessere Entscheidungsgrundlagen und vermeidet dadurch nicht nur Emissionen, sondern kann auch Fehlentscheidungen verhindern, die sonst beim Bau selbst oder während der Nutzungsphase auftreten.  

Welche weiteren Kriterien umfasst das QNG neben der ökologischen Wertung und welche Rolle spielt dabei  die Barrierefreiheit?

Das QNG ist kein reines Klimasiegel, sondern als umfassendes Bewertungssystem für nachhaltige Gebäude konzipiert. Neben der ökologischen Qualität, zu der auch die LCA gehört, werden weitere Aspekte berücksichtigt, etwa die soziokulturelle und funktionale Qualität sowie die Qualität der Innenraumluft. Bewertet werden u. a.  Tageslichtverfügbarkeit, thermischer und akustischer Komfort, Innenraumluftqualität und die Möglichkeit zur barrierearmen Nutzung. Weil sich unsere Gesellschaft verändert und ältere Menschen länger selbstbestimmt wohnen wollen, wird Barrierefreiheit für Neubauten immer relevanter. Aktuell ist der Bestand an wirklich altengerechten Wohnungen jedoch noch sehr gering. Das QNG sieht daher vor, bereits in der Planung auf barrierearme Erschließung, ausreichende Bewegungsflächen und eine spätere Nachrüstbarkeit zu achten. Das bedeutet nicht, dass jedes Detail den DIN-Vorgaben für barrierefreies Bauen entsprechen muss, aber das Gebäude sollte ohne große Eingriffe an veränderte Lebenssituationen angepasst werden können. Wer bereits in der Entwurfsphase schwellenfreie Übergänge oder breitere Türöffnungen berücksichtigt, vermeidet später kostenintensive Umbauten, erhöht die langfristige Nutzbarkeit und bringt Wertstabilität der Immobilie.  

Ein weiterer Aspekt betrifft die Qualität der Innenraumluft. Das QNG fordert den Nachweis, dass emissionsarme Produkte eingesetzt werden – insbesondere im Hinblick auf  flüchtige organische Verbindungen (VOC), Formaldehyd und andere mögliche Schadstoffe. Für Architekten bedeutet das, verstärkt auf anerkannte Umweltzeichen wie den Blauen Engel, natureplus oder andere Produktsiegel zu achten –  bei Farben, Holzprodukten, Dämmstoffen oder Bodenbelägen. So wird sichergestellt, dass nicht nur die Umwelt, sondern auch die Gesundheit der Gebäudenutzer geschützt sind.

Welche praktischen Tipps haben Sie für Architekten, die bei  Neubauprojekten QNG-Zertifizierungen anstreben und eine belastbare LCA erstellen wollen?

Ein zentraler Rat: Man sollte so früh wie möglich ein interdisziplinäres Planungsteam zusammenstellen. Das klingt selbstverständlich, wird aber in der Praxis oft vernachlässigt. Gerade wenn Architektur, Tragwerksplanung, Energieberatung, Haustechnik oder Landschaftsplanung  aus unterschiedlichen Büros kommen, braucht es einen engen Austausch. Denn die Art der Gründung, die Wahl der Baustoffe oder die Anlagentechnik wirken sich direkt auf die Ergebnisse der Lebenszyklusanalyse aus und beeinflussen damit auch die Förderfähigkeit.  

Zweitens: Die Qualität der Datengrundlage ist entscheidend. Wenn beispielsweise nicht bekannt ist, welche genaue Rezeptur ein Recyclingbeton hat oder wie die Lieferkette eines Dämmstoffs aussieht, entstehen Ungenauigkeiten. Für belastbare Ergebnisse sollten, wo möglich, projektspezifische Produktdaten verwendet werden. Ansonsten bieten standardisierte Datenquellen  wie die ÖKOBAUDAT eine solide Grundlage – sie enthält geprüfte Umweltkennwerte, die für die LCA verpflichtend verwendet werden müssen. Wecobis wiederum liefert zusätzliche Hintergrundinformationen zur gesundheitlichen und ökologischen Bewertung von Baustoffen.  

Drittens: Wer Fördermittel beantragt – etwas für den “Klimafreundlichen Neubau” – oder eine QNG-Zertifizierung anstrebt, muss die Nachweise vollständig und plausibel dokumentieren. Die Lebenszyklusanalyse ist Teil der bei KfW-Darlehen notwendigen “Bestätigung zum Antrag” (BzA), die von einem gelisteten Energieeffizienz-Experten erstellt werden muss.  Bei QNG erfolgt darüber hinaus eine externe Prüfung durch die Zertifizierungsstelle. Ich empfehle, diesen Aufwand von Anfang an einzuplanen. Abkürzungen im Prozess rächen sich häufig – sei es durch Rückfragen, Ablehnungen oder Zeitverzug. Gleichzeitig stärkt eine sorgfältig durchgeführte LCA einen echten Wissensvorsprung, der in anderen Projekten weiterhilft.  

Wie sehen Sie die zukünftige Rolle von  LCA und QNG im Bauwesen – und was bedeutet das für die Arbeit  von  Architekten?

Ich sehe zwei große Trends, die die Baupraxis in den kommenden Jahren grundlegend verändern werden: Erstens verschärfen sich die politischen Rahmenbedingungen spürbar – sowohl auf EU- als auch auf Bundesebene. Die überarbeitete EU-Gebäuderichtlinie EPBD sieht vor, dass künftig alle Mitgliedstaaten nationale  Grenzwerte für die CO₂-Emissionen über den gesamten Lebenszyklus eines Neubaus festlegen müssen. Ab 2028 wird die Lebenszyklusanalyse (LCA) für große Neubauten mit mehr als 2.000 m² verpflichtend – später auch für kleinere. Damit wird die LCA von einem freiwilligen Werkzeug zu einem regulatorischen Standard.

Zweitens wächst das Bewusstsein in der Gesellschaft, dass Bauen nicht nur eine Frage der Baukosten ist, sondern auch eine der ökologischen Verantwortung. Private wie institutionelle Bauherren fragen zunehmend, wie sie ihre Immobilien klimagerecht und ressourcenschonend errichten können – nicht zuletzt, um künftigen Sanierungsdruck zu vermeiden und ESG-Vorgaben zu  erfüllen.  

Für Architekturbüros bedeutet das, dass sich der Leistungsumfang spürbar erweitert. Der klassische Fokus auf Gestaltung und  Funktion reicht nicht mehr aus. Gefragt ist ein erweitertes Rollenverständnis, das auch Materialwahl, Rückbaubarkeit, Kreislauffähigkeit und Lebenszykluskosten mitdenkt. Ein Gebäude, das für eine Wiederverwertung einzelner Baumaterialien sortenrein rückgebaut oder umgenutzt werden kann, verursacht deutlich weniger CO2 und hat einen höheren Wert. Das erfordert neue Denkweisen –  etwa reversible statt verklebter Verbindungen oder Planungsentscheidungen, die nicht nur kurzfristig wirtschaftlich sind, sondern langfristig über den gesamten Lebenszyklus betrachtet, ökologisch überzeugen.  

Ich glaube, dass Architekten dabei eine zentrale Schnittstellenfunktion einnehmen –  zwischen Bauherren, Fachplanern und Genehmigungsstellen. Wenn sie den LCA-Gedanken früh verankern, erhöhen sie nicht nur die Qualität des Projektes, sondern leisten einen wesentlichen und messbaren Beitrag zum Klimaschutz. Das QNG kann hier als strukturiertes Werkzeug dienen, um Nachhaltigkeitskriterien nachvollziehbar umzusetzen. Wer sich darauf einlässt, lernt automatisch, ökologische, soziokulturelle und wirtschaftliche Anforderungen im Gleichgewicht zu denken. Was wir heute bauen, steht nicht nur für Jahrzehnte – es prägt auch die Zukunft. Die LCA, wie sie im QNG verbindlich verankert ist, wird zum entscheidenden Hebel, um Baukultur nachhaltig und zukunftsorientiert zu gestalten.

Gastbeitrag von Verena Sommerfeld

Verena Sommerfeld ist Bauingenieurin mit über 26 Jahren Erfahrung und Inhaberin von Sommerfeld Energieberatung, spezialisiert auf energieeffizientes Bauen, Sanierungen und Fördermittel. Sie verfügt über umfassende Zusatzqualifikationen als Energieberaterin für Wohn- und Nichtwohngebäude sowie in der LCA-Bilanzierung für nachhaltige Bauprojekte. Mit speziellem Fachwissen im Denkmalschutz unterstützt sie die energetische Modernisierung historischer Gebäude, ohne deren Charakter zu beeinträchtigen. Kontakt: https://sommerfeld-energieberatung.de