19. April 2024

Prof. Dr.-Ing. Lamia Messari-Becker: „Menschen im Mittelpunkt“

Prof. Messari-Becker, Bauingenieurin und Professorin für Gebäudetechnologie und Bauphysik an der Universität Siegen (c) Enrico Santifaller

Siegen (pm) – Die Corona-Pandemie verändert unsere Innenstädte und unsere Arbeitswelt. Diese Veränderungen sollten wir als Chancen begreifen, sagt Prof. Dr.-Ing. Lamia Messari-Becker, Bauingenieurin und Professorin für Gebäudetechnologie und Bauphysik an der Universität Siegen. Wie BürgerInnen auch auf dem Land und auch der Klimaschutz davon profitieren können, beantwortet sie im Interview.

 

Was macht die Pandemie mit unseren Innenstädten?

Univ.-Prof. Dr.-Ing. Lamia Messari-Becker: Im Moment verursacht die Pandemie die größten Ruinen unserer Zeit. Bürogebäude in Metropolen stehen leer während viele ArbeitnehmerInnen im Homeoffice arbeiten. Der Einzelhandel stirbt während der Onlinehandel boomt. Nach der Pandemie wird nicht alles wieder so sein wie vorher und das sollten wir auch gar nicht anstreben. Denn wir sollten die Pandemie und den Wandel als Chance begreifen. Die Frage, die wir uns stellen müssen, ist: Wie geht es nach der Pandemie weiter? Was lernen wir daraus und was können wir gemeinsam besser machen?

Wie schaffen wir es, den Leerstand als Chance zu nutzen? Sie haben kürzlich einen Kommentar in der F.A.Z. veröffentlicht, in dem es um diese Frage geht.

Messari-Becker: Ein sozial-ökologischer Stadtumbau steht ohnehin an. Diesen sollten wir nutzen, indem wir den Leerstand als Leergut begreifen und eine neue Baukultur etablieren. Bauen mit dem Bestand dürfte räumlich, architektonisch und ingenieurtechnisch eine der spannendsten Aufgaben der jüngeren Baugeschichte werden. So habe ich es auch in meinem F.A.Z.-Kommentar formuliert. Viele Menschen haben mich auf meinen Kommentar angesprochen. Ihnen waren die Aspekte ländlicher Raum oder soziale Mischung in den Wohnvierteln wichtig.

Wie kann diese neue Baukultur konkret aussehen und wie wollen Sie sicherstellen, dass Sie die Bürgerinnen und Bürger – auch im ländlichen Raum – mitnehmen?

Messari-Becker: Wir müssen Bau-, Raum und Stadtentwicklung mit der Lebensrealität der Menschen zusammenbringen. Das geschieht bisher zu selten. Für Städte gilt zum Beispiel: Isolierte monofunktionale Gebäude, wie Shopping Malls oder reine Büro-Komplexe, sind nicht mehr zeitgemäß. Hier geht es darum, neue Nutzungsmöglichkeiten auszuloten und umzusetzen. Warum funktionieren wir solche Gebäude nicht teilweise in Wohnraum um? Der Bau-, Raum und Stadtentwicklungspolitik wurde in den letzten Jahren keine große politische Bedeutung beigemessen. Das muss anders werden. Generell brauchen wir kleinteiligere kompaktere Strukturen, Orte der kurzen Wege, klimaresiliente Infrastruktur, mehr Urbanität, bezahlbares Wohnen egal ob auf dem Land oder in der Stadt. Wohnen, Arbeiten, Einkaufen und Freizeit sollten wenn möglich eng beieinander liegen.

Wie kann man sich das in Dörfern vorstellen?

Messari-Becker: Der ländliche Raum müsste mittel- und langfristig so umgestaltet werden, dass es Möglichkeiten zum Einkaufen in der Nähe und klimafreundliche Mobilitätsangebote gibt. Durch Orte der kurzen Wege fallen automatisch einige Gründe zum Pendeln weg. Das verringert die Flucht vom Land und es stärkt auch die lokale Wirtschaft. Und wir nehmen so den Druck von der Stadt. Dazu kommt: Die Arbeit von vielen Menschen hat sich während der Pandemie ins Digitale verlagert. Nicht mehr alle Arbeitsplätze befinden sich in der Stadt. Das bisher so selbstverständliche Pendeln mit dem eigenen Auto ist teilweise nicht mehr notwendig. Homeoffice kann künftig teilweise beibehalten werden. Der ländliche Raum ist damit nicht mehr ausschließlich ein grüner oder günstiger Ort zum Wohnen, sondern auch zum Arbeiten, insbesondere wenn wir dafür sorgen, dass die „Baustelle Digitalisierung“ insgesamt angegangen wird. Durch politisches Handeln und Investitionen sollten wir daran arbeiten, die Kluft zwischen Stadt und Land zu mindern, um für alle Menschen Perspektiven zu bieten. Stadt und Land sollten wieder Partner sein.

Würden sich Orte der kurzen Wege auch positiv auf den Klimaschutz auswirken?

Messari-Becker: Ja, denn wir geben den Menschen dadurch die Möglichkeit, sich klimafreundlich zu verhalten. Es muss darum gehen, dass sich Menschen von A nach B sicher, schnell, ökologisch und bezahlbar bewegen können. Viele Menschen möchten etwas für den Klimaschutz tun, zum Beispiel im Bereich Mobilität oder Haussanierung. Aber die Hürden, die Bürokratie und die Kosten sind für viele zu hoch. Das höre ich immer wieder und diese Rückmeldungen habe ich auch auf meinen Kommentar in der F.A.Z. zuhauf bekommen. Sind wir ehrlich: Für viele auf dem Land kommen Bus und Bahn aufgrund der schlechten Anbindung nicht infrage. Das Auto immer unattraktiver zu machen, hilft diesen Menschen nicht. Ausbau des ÖPNV, digitalisiertes Verkehrsmanagement, eine funktionierende Anbindung und auch kurze Wege schon. Wir sollten da ansetzen, wo wir die Menschen in ihrer Realität ansprechen. Auch und gerade im ländlichen Raum.

Sie sprechen das Thema Sanierung an. Wie sieht bei diesem Thema die Realität der Menschen aus?

Messari-Becker: Wenn mir Rentner erzählen, dass sie ihr Haus gern sanieren möchten, das Förderrecht aber vorsieht, dass meist  Maßnahmenpakete gefördert werden – dann sind das exorbitant hohe Summen, die viele nicht so einfach stemmen können. Ich plädiere dafür, dass es ermöglicht wird, dass jeder in seinem eigenen Tempo sanieren können soll. Einzelne Schritte nacheinander für z.B. Fenstererneuerung, Fassadendämmung und Heizungsaustausch wären viel realitätsnäher als ein komplettes, unflexibles Maßnahmenpaket. Eine weitere Möglichkeit ist, einen räumlichen Mehrwert baurechtlich zuzulassen, z.B. über Aufstockungen, Anbauten etc. Ich bin überzeugt, dass wir viel mehr Menschen in die Lage versetzen können, ihre Häuser zu sanieren, als bisher. Dafür müsste aber das Bau- und Förderrecht reformiert werden.

Die Bundesregierung möchte beschließen, dass die CO2-Abgaben auf Heizung zu 50% von Mietern und zu 50% von Vermietern getragen werden. Wie bewerten Sie das?

Messari-Becker: Was gerecht klingt, wird uns länger beschäftigen. Es wird nicht einfacher und es werden Fragen aufkommen: Verbrauchswerte, Sanierungspflichten der Vermieter, das Nutzerverhalten der Mieter usw. Ich bin gespannt, ob das uns den Zielen näherbringt. Jedenfalls sollte man das flankieren. Es darf nicht dazu führen, dass die Miete weiter erhöht wird oder Vermieter nicht mehr vermieten wollen.

Wie können wir gewährleisten, dass auch in Quartieren mit wenig finanziellen Mitteln Häuser saniert werden?

Messari-Becker: Häufig sind es Menschen in sozial schwächeren Gegenden, die in schlechten Wohnverhältnissen leben und dabei aufgrund des energetischen Zustands der Gebäude hohe Heizkosten haben. Ich plädiere dafür, dass sich alle Player zusammentun: Die Politik, die Industrie und die Wohnungsbauwirtschaft. Mit einem Fonds für warmmietenneutrale Sanierungen wäre vielen Menschen geholfen. Denn so könnten auch Häuser in sozial schwächeren Quartieren saniert werden, die Unternehmen würden mit den Sanierungen legitim ihr Geld verdienen, und gleichzeitig könnte man vermeiden, dass danach die Mietpreise so sehr steigen, dass sich die bisherigen Mieter die Wohnungen nicht mehr leisten können. Das nenne ich soziale Innovation in einer sozial-ökologischen Marktwirtschaft. Wir wollen Klimaschutz voranbringen, aber mit den Menschen im Mittelpunkt, mit sozialem Auge und gemeinsam mit der Wirtschaft. Wir brauchen eine Bau- und Stadtentwicklungspolitik, die die Menschen in den Mittelpunkt stellt. Nur so motivieren wir alle, sich freiwillig für den Klimaschutz einzusetzen, und ermöglichen es ihnen überhaupt erst, sich daran zu beteiligen.
Ob es Klimaschutz, bezahlbares Wohnen, Energie- und Mobilitätswende, soziale Mischung etc., die Herausforderungen und die Chancen sind im Bausektor und in der Stadtentwicklung groß. All das kann nur ein eigenständiges Bauministerium stemmen.

Hintergrund
Univ.-Prof. Dr.-Ing. Lamia Messari-Becker (48) ist Bauingenieurin und Professorin für Gebäudetechnologie und Bauphysik an der Universität Siegen. Sie ist Mitglied im Club of Rome International, im Konvent der Bundesstiftung Baukultur und war bis 2020 Mitglied im Sachverständigenrat für Umweltfragen (SRU) der Bundesregierung.

Pressemitteilung: Universität Siegen