Kommentar – von Sebastian Theißen, geschäftsführender Gesellschafter bei LIST Eco
Kreislauffähigkeit ist einer der Schlüssel zu mehr Nachhaltigkeit im Bauwesen. Das ist keine neue Erkenntnis. Die entscheidende Frage bei diesem Thema ist: Wo steht die Branche wirklich? Denn zwischen theoretischem Anspruch und praktischer Umsetzung klafft nach wie vor eine beunruhigend große Lücke. Erste Fortschritte sind sichtbar – etwa durch die zunehmende Integration von Lebenszyklusbetrachtungen in Planung und Zertifizierung. Doch strukturell fehlt es noch an Breite, Konsequenz und vor allem an einem Paradigmenwechsel: weg vom linearen, hin zum zirkulären Bauen als Normalzustand.
Irreführende Begrifflichkeiten
Wer den Anspruch der Klimaneutralität bis 2045 ernst nimmt, muss bereit sein, das Fundament des Bauens neu zu denken – und zwar wortwörtlich. Es reicht längst nicht mehr aus, nur den Energiebedarf im Betrieb zu reduzieren. Der eigentliche Hebel muss wesentlich früher angesetzt werden: in den Emissionen, die entstehen, bevor ein Gebäude überhaupt genutzt wird – bei der Produktion und Verarbeitung von Baustoffen. Die Rede ist von der grauen Emission, auch Embodied Carbon genannt. Und genau dieser Bereich wird bislang unterschätzt.
Allein schon der Begriff „embodied“ – also „verkörpert“ oder „enthalten“ – ist irreführend. Denn wenn keine nachwachsenden Materialien genutzt werden, sind die Emissionen nicht im Material gebunden, sie sind längst in der Atmosphäre, ab dem Moment der Herstellung. Sie wirken also sofort, nicht über Jahrzehnte. In modernen, sehr gut gedämmten Gebäuden entfallen heutzutage oft weniger als 30 bis 40 Prozent der Emissionen auf den Betrieb. Der weitaus größere Anteil entsteht in den frühen Phasen: Rohstoffgewinnung, Transport, Produktion, Einbau. Wer dort also nicht ansetzt, verfehlt das Ziel schon vor dem ersten Spatenstich.
Kreislauffähigkeit muss innerhalb eines Systems funktionieren
Genau deshalb braucht es beides: die Dekarbonisierung der Baustoffindustrie und die konsequente Förderung geschlossener Materialkreisläufe. Nur wenn Materialien nicht nur „besser“, sondern auch länger, wieder- und weiterverwendbar sind, kann der Bausektor tatsächlich Teil der Lösung werden. Das betrifft einzelne Materialien, aber vor allem die Art, wie wir bauen – modular, rückbaubar, dokumentiert, schadstofffrei. Denn Kreislauffähigkeit entsteht durch das System, in das sie eingebettet ist.
Wichtig ist also, das Thema im Ganzen zu betrachten statt isoliert technisch – im Rahmen des gesamten Wertschöpfungsprozess sowie in seiner Bedeutung für die Planung, die Projektentwicklung, Investitionen, Geschäftsmodelle oder auch Partnerstrukturen.
Politisch ist das Thema längst auf der Agenda: Die EU-Taxonomie, die CSRD, die DGNB-Zertifizierung und das Qualitätssiegel Nachhaltiges Gebäude (QNG) setzen klare Anforderungen. Auch wenn das Omnibus-Verfahren bestimmte Prozesse flexibilisiert, bleiben die Berichtspflichten zu Lebenszyklus-THG und Kreislauffähigkeit bestehen, weil:
- sie zentrale Anforderung der CSRD und EU-Taxonomie sind,
- die Finanzierungswelt (Banken, Investoren) darauf angewiesen ist,
- sie zunehmend zum Standard in ESG-Due-Diligence-Prozessen gehören,
- auch nationale Regulierungen und Förderlogiken darauf aufbauen.
Wer in der Bau- und Immobilienbranche künftig also Finanzierung, Genehmigung oder Marktakzeptanz erreichen will, kommt um diese Themen nicht herum.
Digitale Werkzeuge schaffen dabei Transparenz: Lebenszyklusanalysen, Materialdatenbanken, BIM-basierte Ressourcenpässe (z. B. über Madaster oder Concular) ermöglichen es, Emissionen sichtbar zu machen, Wiederverwendbarkeit zu prüfen und Planungen gezielt zu verbessern. Doch der entscheidende Unterschied liegt nicht in der Technologie, sondern im Timing. Wer Kreislaufaspekte erst in Leistungsphase 5 betrachtet, ist zu spät dran. Was nicht geplant, dokumentiert und sortenrein verbaut wurde, lässt sich später nicht mehr zurückgewinnen. Zirkularität muss von Anfang an mitgedacht werden.
Ebenso wichtig: Die Effizienz auf der Baustelle selbst. Abfallvermeidung, saubere Trennung, schadstofffreier Materialeinsatz, Rückführung statt Entsorgung – hier entscheidet sich, ob der Kreis sich tatsächlich schließt. Dabei sind unbedenkliche Materialien im Vorteil, weil sie einfacher rückführbar sind.
Und auch hier gilt: Frühzeitige Planung, enge Abstimmung zwischen Gewerken und die Integration von Nachhaltigkeitsexperten sind entscheidend.
Fazit
Zirkularität ist kein Nebenaspekt der Nachhaltigkeit – sie ist ihr zentrales Prinzip. Sie fordert uns heraus, unsere Bau- und Immobilienprozesse grundlegend zu hinterfragen und neu zu gestalten. Wer heute linear denkt, baut morgen an einem Markt vorbei, der längst andere Anforderungen stellt – regulatorisch, finanziell und gesellschaftlich. Wer aber bereit ist, Zirkularität zur Grundlage seines Geschäftsmodells zu machen, schafft nicht nur nachhaltigere Gebäude, sondern zukunftsfähige Strukturen. Die Chance ist da. Jetzt müssen wir sie nutzen.
Quelle: LIST Gruppe