20. April 2024

Interview mit Prof. Dr. Dr. E.h. Werner Sobek: „Wir haben kein Energieproblem – wir haben ein Emissionsproblem“

Prof. Dr. Dr. E.h. Werner Sobek im Interview mit dem Architekturblatt

Stuttgart (ab) – Prof. Sobek, Sie sind ein international bekannter, gefragter und gewürdigter Architekt und Bauingenieur. 1992 gründeten Sie das international tätige Büro Werner Sobek AG, das heute nahezu 400 Mitarbeiter hat. Sie leiteten von 1994 bis 2020 das Institut für Leichtbau Entwerfen und Konstruieren (ILEK) der Universität Stuttgart und initiierten den Sonderforschungsbereich 1244, der sich mit nachhaltigem und ressourcenschonendem Bauen befasst. Darüber hinaus sind Sie Gründer und Vorsitzender der renommierten Initiative zur Förderung von Architektur, Engineering und Design (aed) sowie Mitbegründer der Deutschen Gesellschaft für Nachhaltiges Bauen (DGNB). Sie gelten als der große Vordenker des Leichtbaus und des nachhaltigen Bauens. Sie erhielten zahlreiche Preise und Ehrungen. Die Zeitschrift Cicero zählt Sie – als einzigen Architekt bzw. Ingenieur überhaupt – zu den 500 einflussreichsten deutschsprachigen Intellektuellen.

Werner Sobek (c) Rene Müller

Wie haben Sie zur Architektur und zum Bauingenieurwesen gefunden?

Eigentlich wollte ich aufgrund meiner Nähe zur Malerei, zur Couture, also zur Bekleidung und zur Szenographie Bühnenbildner werden. Aber meine Studienentscheidung musste zur Zeit der ersten Ölpreiskrise fallen, einer Zeit, in der man einem angehenden Bühnenbildner nur die dunkelsten Berufschancen voraussagte. Ich habe mich also entschlossen, Architektur oder Bauingenieurwesen zu studieren. Schließlich habe ich beides studiert. Warum? Nun, im Bauingenieurwesen wurde immer nur Analyse betrieben. Was da an statischen Systemen analysiert wurde, hat für sich gesehen häufig wenig Sinn gemacht. Aber man hat gelernt, es zu berechnen. Die Professoren haben auf meine ungeduldigen Fragen nur geantwortet, dass es nicht die Aufgabe des Ingenieurs sei, die Konzeptionen zu hinterfragen, das mache der Architekt. Der Ingenieur sorge nur dafür, dass die Dinge richtig dimensioniert seien. Bei den Architekten war es genau umgedreht – da war mir nun das naturwissenschaftliche, das ingenieurwissenschaftliche Moment nicht hinreichend breit verankert. Daraufhin habe ich beides studiert – und bin damit sehr glücklich geworden.

Bei wem haben Sie studiert?

Ich hatte das Lebensglück, fünf akademische Lehrer von Weltrang zu finden, die mich teilweise nur durch einen einzigen Satz geprägt haben. Oft kommt es aber nur auf diesen einen entscheidenden Satz und die dahinter stehende Haltung an. Ich war sechs Jahre lang Assistent bei Jörg Schlaich und durfte bei ihm promovieren. Vorher war ich über viele Jahre Hilfsassistent bei Frei Otto und konnte auch dort viel lernen. Ich habe bei Klaus Linkwitz, Professor für Geodäsie, drei Jahre lang als Hiwi die Tafel gewischt und durfte während dieser Zeit Vorlesungen über Geodäsie, Photogrammmetrie und Differenzialgeometrie hören. Er war derjenige, der (zusammen mit John Argyris und Theo Angelopoulos) die Berechnungsverfahren für die vorgespannten Seilnetze der Bauten der Olympiade in München entwickelt hat. Durch ihn habe ich einen tiefen Einblick in Fragen der Geometrie der doppelt gekrümmten Flächen erhalten – Aspekte, die mich auch später viel beschäftigt haben. Bei Jürgen Joedicke habe ich Architekturtheorie und Geschichte der modernen Architektur gehört. Das war sehr prägend. Last, but not least: Während meiner Promotion konnte ich durch eine Auszeichnung der SOM Foundation für einige Monate nach Chicago gehen. Dort habe ich Myron Goldsmith kennengelernt, den eigentlichen Erfinder der Tragwerke, mit denen man Hochhäuser jenseits von 300 Metern Höhe sinnvoll bauen kann. Myron Goldsmith war übrigens auch Architekt und Ingenieur. Diesen meinen fünf akademischen Lehrern, die mir während einer Autofahrt, am Rande einer Vorlesung oder beim Sortieren von Dias grundlegende Prägungen vermittelten, bin ich für immer dankbar.

Wer oder was hat Sie als Architekt und Bauingenieur geprägt?

Den Architekt in mir hat Jürgen Joedicke mit seiner Forderung nach anthropozentrischer Ausrichtung von Gestaltungsüberlegungen in der Architektur, den Bauingenieur in mir hat insbesondere Jörg Schlaich mit seinem unglaublichen Gefühl für das, was er Kraftfluss nannte, geprägt. Die Art meines wissenschaftlichen Denkens geht in vielen Bereichen auf Äußerungen von Klaus Linkwitz zurück.

Erzählen Sie uns eine Geschichte zu dem Projekt, das Ihnen besonders am Herzen liegt.

Da gibt es so viele… Wenn ich aber ein bestimmtes Projekt herausgreifen möchte, muss ich zuerst über nicht-visuelle Architektur sprechen. Diese war immer ein wichtiger Teil meiner Lehre. Viele lehren das Visuelle. Vielleicht sprechen mache auch über Farbe. Aber nur die wenigsten sprechen über nicht-visuelle Komponenten, das heißt über das Riechen, über das Fühlen, über das Hören von Architektur, also beispielsweise über unterschiedliche Echolaufzeiten oder Temperaturfelder und vieles anderes mehr. Ich habe das sehr konsequent gemacht.

Nicht-visuelle Architektur

Am ILEK habe ich oft Entwurfsthemen herausgegeben, bei denen es nicht um Materialminimalität ging, sondern um ein Haus für blinde oder für taube Menschen. Wie gestaltet man ein Haus, in dem man sich nur durch Tasten oder Riechen orientieren kann? Welche Möglichkeiten hat man als Architekt, mit Gerüchen eine dreidimensionale Raumführung zu entwickeln? Durch die intensive Auseinandersetzung mit diesen Dingen können wir jetzt Häuser bauen, in denen die Bewohner riechen, dass sie zu Hause sind. Ein Bauherr in Dubai fragte mich zum Beispiel: „What will be special about my house?“ Ich antwortete ihm, dass er mit geschlossenen Augen riechen könne, dass er zu Hause sei. Wir verwendeten dort Wandteppiche aus Ziegenhaar, die immer schon den Geruch hatten, den die Beduinen und die Leute, die in der Wüste leben, riechen bzw. gerochen haben. Das ist der Geruch der Heimat.

Taktile Architektur

Auch das Taktile hat bei unseren Arbeiten immer eine große Rolle gespielt, beispielsweise bei einem Messestand, den wir mit den Stabwerken der Firma Mero entwickelt haben. Max Mengeringhausen entwickelte den berühmten Mero-Knoten. In einem klassischen Mero-Knoten konnte man eine Fachwerkstab nur bei 0°, 90°, 45° oder 30° Grad einschrauben, aber nicht bei beliebigen Winkeln dazwischen. Das war der Technologie des Knotens geschuldet. In den 1960er und 1970er Jahren entstanden damit viele Überdachungen von Sportstätten und Hallenbädern. Die Tragstruktur dieser Bauten sah immer gleich aus, da alle Stäbe mit einem Knoten, der dieser Technologie verhaftet war, verbunden waren. Aufgrund der fehlenden Variationsmöglichkeiten flaute das Interesse der Architekten am Mero-Knoten ab. Mero entwickelte deshalb einen Knoten, bei dem man in jedem beliebigen Winkel eine Bohrung mit einem Gewinde in den Knoten einsetzen konnte. Für die Präsentation dieses Systems auf einer großen Messe haben wir einen Messestand entwickelt. Wir haben dafür eine einlagige, doppelt gekrümmte Bahn aus Mero-Stäben mit 18mm Durchmesser genutzt und einen 6 Meter hohen und ungefähr 30 Meter langen Messestand gebaut. Diese Wand war zwar ein technisches Meisterwerk, aber irgendwie fehlte noch etwas. Wir haben deshalb eine Hülle aus einer überdimensionierten PVC-Folie über die Struktur gezogen und an den Fußpunkten mit luftdichten Haftverschlüssen fixiert. Die Folie war vorher mit einem Sandblasgerät angeraut worden, so dass sie eine samtig-weiche Oberfläche erhielt und milchig schimmerte. Anschließend wurde die Luft aus dem Innenraum der Folie gesaugt, so dass sie sich (da bewusst überdimensioniert) in Falten über die Stabstrukur legte. Die große Kunst war es nun, die Falten während des Vakuumierens so zu legen, dass es meinen gestalterischen Anspruch erfüllte. Der Messestand sah am Ende wunderbar aus.

Mero-Messestand (c) Werner Sobek AG, Stuttgart

Mero-Messestand (c) Werner Sobek AG, Suttgart

Und wie ich es immer mache, war ich am ersten Tag der Messe anwesend und habe aus 10 bis 20 Meter Entfernung die Reaktionen der Menschen beobachtet. Die Besucher waren meistens Männer zwischen 40 und 60 Jahren, es war eine Maschinenbaumesse. Die Besucher haben diesen Messestand gesehen, sind darauf zugegangen, haben nach links und nach rechts geschaut und dann ganz heimlich mit einer Hand angefangen, die gefaltete Kunststofffolie zu ertasten und zu erfühlen. Im Laufe des Vormittags sah ich viele Menschen, die diese Folie anfassten und es offensichtlich als eine tolle haptische Erfahrung empfanden. Das hat mich in meiner Überzeugung bestätigt, dass wir viel, viel mehr mit dem Taktilen und anderen nicht-visuellen Qualitäten arbeiten müssen. Das haben wir dann auch in vielen Bauwerken umgesetzt.

Welches Projekt hat Sie am meisten herausgefordert?

Auch das waren viele, weil viele Kunden zu uns gekommen sind und etwas wollten, was noch nie vorher da war. Nicht im sensationalistischem Sinne, sondern im Sinne von „Können wir den Energieverbrauch weiter minimieren?“ oder „Können wir den Materialverbrauch reduzieren oder die Transparenz erhöhen?“. Es war ein Arbeiten an den Grenzen des technisch Machbaren, häufig auch ein Verschieben dieser Grenzen. Häufig bekam ich einen Auftrag – und stand dann vor einem Forschungs- und Entwicklungsproblem, das ich erstmal lösen musste.

Flughafen Bangkok

Das war beispielweise beim Neubau des Flughafens Bangkok so, bei dem wir eine der größten Glasfassaden aller Zeiten zu planen hatten. Diese Fassade ist (abgewickelt) 1000 Meter lang und 40 Meter hoch. Der Architekt Helmut Jahn wünschte sich eine absolut immaterielle, transparente Fassade, die durch ein weit auskragendes Dach (auf allen Seiten ungefähr 40 Meter und mehr) vor der Sonne geschützt sein sollte. Aber wie baut man eine Fassade aus Glas, die 40 Meter hoch ist und die am oberen Rand an ein Dach anschließt, das Stützen mit Spannweiten zwischen 70 und 140 Metern hat? Ein solches Dach biegt sich bei einem für Bangkok typischen Starkregen in der Feldmitte um 400 oder 500 Millimeter nach unten, während die Wassertropfen bis zu 60 Sekunden brauchen, um von ihrem Aufprallpunkt zum Fallrohr zu kommen. Wenn Sie eine Fassade an etwas anschließen müssen, das sich permanent in diesen Dimensionen bewegt, dann ist das alles andere als einfach. Aber wir haben alles hinbekommen, weil ich damals wie heute ein tolles Team hatte, mit der Erfindungsgabe und der Fantasie, gemeinsam neue Lösungen zu entwickeln.

Bangkok Flughafen (c) Rainer Viertlböck

Bangkok Flughafen (c) Rainer Viertlböck

Mein ganzes berufliches Leben ist dadurch gekennzeichnet, dass es um Sachen ging, die in dieser Form eigentlich noch nie gemacht worden waren -Grenzerfahrungen, Grenzüberschreitungen- aber, und das ist mir sehr wichtig, nie im olympischen Sinne von „höher, schneller, weiter“. Solche Kategorien habe ich nie als relevant für mich empfunden. Mir geht es um Grenzüberschreitungen im Sinne von „schöner“, „weniger Material“, „bereichernder für die Menschen“.

Anfang des Jahres erschien Ihr neues Buch „non nobis – über das Bauen in der Zukunft“, das erste Buch einer Trilogie. In diesem Band vermitteln Sie Grundlagenwissen über Determinanten des Bauens, um Perspektiven und Handlungsempfehlungen über das zukünftige Bauen weltweit ableiten zu können.

Schon auf den ersten Seiten schildern Sie, dass das Bauwesen weltweit für 60% des Ressourcenverbrauchs, für rund 50% des Abfallaufkommens, für mehr als 50% der Emissionen von klimaschädlichen Gasen und für mehr als 35% des Energieverbrauchs verantwortlich ist.[1]

Nehmen wir uns ein Thema heraus: Die Notwendigkeit der Reduzierung der CO2 – Emissionen von Gebäuden gemäß den Vorgaben des Pariser Klimaschutzabkommens von 2015. „Bei einem Weiter-so-wie-bisher wird die Menschheit demnach die Schranke des 1,5 Grad Celsius Ziels zum Ende des Jahres 2027 erreicht haben.“[2] Der Handlungsdruck ist enorm und eine Veränderung unausweichlich.

Gebäude können im Kontext mit CO2-Emissionen phasenbezogen betrachtet werden.[3] Vereinfacht dargestellt emittiert ein 2020 errichtetes Gebäude in Deutschland etwa 50 bis 55% CO2 bei seiner Herstellung, 35 bis 40% bei der Nutzung und 5 bis 10 % beim Rückbau.[4]

Welche Gesichtspunkte bieten die aus heutiger Sicht für den Neubau eines Wohngebäudes in Deutschland vielversprechendsten Ansätze auf dem Weg zur CO2-Neutralität?

Das ist eine schwierige Frage. Das „global warming“ im Sinne einer Erderwärmung wurde zum ersten Mal Ende des 19. Jahrhunderts von dem Physiker Svante Arrhenius beschrieben, der auf den Zusammenhang zwischen CO2-Gehalt in der Atmosphäre und der Temperatur der Erdoberfläche hinwies.

Erderwärmung

Diese Erkenntnis wurde in den folgenden Jahrzehnten von verschiedenen Wissenschaftlern bestätigt, aber nie in der Breite diskutiert. Spätestens 1977 war aber in den Forschungsabteilungen diverser Ölkonzerne bekannt, dass es bereits zu Beginn des 21. Jahrhunderts zu einer deutlichen Temperaturerhöhung kommen würde. Diese Berichte wurden der Öffentlichkeit jedoch vorenthalten, was ich als historische Schuld der beteiligten Forscher ansehe.

Unsere Gesellschaft hat in Folge der ersten Ölpreiskrise auch eine Wärmeschutzverordnung erlassen. Diese war aber nicht dazu gedacht, die Erderwärmung abzubremsen. Sie sollte vielmehr die Abhängigkeit von den Öllieferländern reduzieren. Erst in den 1980er Jahren kam als weiteres Argument der Schutz unserer Ressourcen hinzu. Alles dies waren aber nur partielle Maßnahmen, die v.a. auf die Energieeffizienz abzielten, nicht auf die Emissionen. Man hat nie eine ganzheitliche Betrachtung angestellt, nie die Folgen einer Erderwärmung auf globalem Niveau betrachtet. Eine Erderwärmung bedeutet das Entstehen von Trockenzonen (und damit auch Hungersnöten) – auch in Gegenden der Erde, in denen heute wesentliche Teile der Nahrungsmittelproduktion stattfinden.

Es werden sogenannte Heißluftregionen entstehen, in denen überhaupt nichts mehr wächst. Ich komme gerade aus Argentinien, wo Wälder und Feuchtgebiete gigantischen Ausmaßes in Flammen stehen. Davon hören wir hier nichts. Eine befreundete Familie von mir, die Teile dieser Wälder besitzt, um Naturkautschuk zu gewinnen, steht vor dem Ruin. Die Sümpfe, in denen die Bäume standen, sind ausgetrocknet, weil es seit zwei Jahren nicht mehr richtig geregnet hat (und in den letzten zwei Monaten überhaupt nicht mehr). Das bedeutet, dass in diesen Regionen der Ernteertrag fällt – und das zu einer Zeit, wo erhebliche Teile der Menschheit sowieso zu wenig zu Essen haben. Momentan mag das nur ein Verteilungsproblem sein. Wenn es aber durch ein weiteres Ansteigen der Temperatur zu großen Einbrüchen in der Nahrungsmittelproduktion kommt, dann gibt es eben auch nichts mehr zu verteilen.

Es ist schon jetzt klar, dass das 1,5 Grad-Ziel nicht zu halten ist. Dieser Zug ist abgefahren. Eine Erderwärmung von 2 Grad oder mehr führt aber nicht nur zu einem Ansteigen des Meeresspiegels, sondern auch zu signifikanten Einbrüchen in der Nahrungsmittelproduktion. Das heißt zu Hungersnöten, die nicht 100.000, sondern 100 Millionen Menschen betreffen werden. Und damit geht auch die Destabilisierung sozialer Gefüge einher. Wir werden massive Migrationsbewegungen erleben. Schauen Sie nur, wie schwer Europa sich mit einigen tausend Flüchtlingen aus Afrika tut. Wir lassen sie einfach ertrinken. Oder man verbannt sie auf irgendwelche Inseln. Eine der reichsten Regionen der Welt lässt diese Leute einfach auf Inseln wie Lesbos zelten und vor sich hinfrieren, ohne richtige medizinische Versorgung. Das ist grausam. Das ist aber nichts im Vergleich zu dem, was passieren wird, wenn die Erderwärmung 2 Grad erreicht oder überschreitet. Nochmals: Wir haben kein Energieproblem, wir haben ein Emissionsproblem.

Das Bauwesen steht für mehr als 50% Prozent der klimaschädlichen Emissionen. Die normalerweise kolportierte Zahl heißt 38 %. Diese Zahl ist aber falsch, da sie vieles nicht beinhaltet, wie beispielweise den Transport von Materialien und Baustoffen, die teilweise über viele hunderte von Kilometern transportiert werden.

Triple Zero

1988 habe ich begonnen, mich mit recyclinggerechtem Bauen zu beschäftigen. Warum? Weil mir klar geworden war, dass der Materialverbrauch des Bauwesens immerhin 60 Prozent des gesamten Materialverbrauchs beträgt. Der dabei entstehende Abfall hat eine signifikante Größenordnung, über die wir nicht hinwegsehen können. Und deshalb habe ich 1990 angefangen, an diesen Dingen zu forschen. 1998 habe ich gesagt: „Wir müssen uns selbst eine strenge Zielvorgabe machen“. Ich habe es damals Triple Zero® genannt. Die erste Null steht für „kein Verbrauch an Energie, die durch Verbrennungsprozesse bereitgestellt wird“. Hier sind nicht nur fossile Brennstoffe gemeint, denn wenn ich Holz verbrenne, entsteht auch CO2. Die zweite Null steht für „keine klimaschädlichen Emissionen, weder bei der Herstellung noch beim Betrieb der Gebäude“. Die dritte Null steht für „kein Abfall“. Kein Abfall bei der Produktion von Bauteilen wie beispielweise im Sägewerk oder in der Zimmerei. Kein Abfall auf der Baustelle (vor der Jahrtausendwende wurden die Bauabfälle typischerweise noch nicht einmal sortiert. Sie wanderten in Container und wurde dann verbrannt oder deponiert). Kein Abfall auch beim Rückbau und beim Recycling. Also Materialminimalität, sorgsame Verwendung der Baustoffe und ein Rezyklieren dieser Baustoffe auf möglichst hohem Niveau. Aus Beton irgendwelche Granulate herzustellen, die wir dann für die Herstellung von Lärmschutzwänden entlang der Autobahnen verwenden, ist intellektuell und technisch gesehen keine große Herausforderung. Aber ein Haus so zu bauen, dass später aus dem Beton, den man dort verbaut hat, wieder Beton hergestellt werden kann, das ist alles andere als einfach. Man muss dafür den Beton sortenrein vorliegen haben und nicht mit Anstrichsystemen, Wärmedämmung und irgendwelchen Leitungen oder Leerrohen aus Plastik versehen. Das bedeutet eine andere Art des Konstruierens, und damit auch eine andere Art von Engineering und eine andere Art von Architektur.

Emissionen – Energie

Die Frage ist: Was machen wir mit dieser Erkenntnis der Problemstellung, was ist die Lösung? Für manche könnte die Lösung jetzt aus einem Katalog bestehen mit Überschriften wie: „Du sollst so bauen, so bauen, so bauen….“. Ich würde es gern bei folgender Überschrift belassen: Wir müssen die Menge der vom Bauwesen verursachten Emissionen radikal senken.

Das erste Gesetz zur Änderung des Klimaschutzgesetzes bringt dies jetzt auf den Weg. Das ursprüngliche Gesetz wurde nach einem spektakulären Urteil des Bundesverfassungsgerichts von der deutschen Regierung unter Angela Merkel innerhalb von fünf Tagen signifikant verschärft. Leider muss man sagen, dass die Bundesregierung schon das ursprüngliche Gesetz nicht freiwillig auf den Weg gebracht hat, sondern dass schon die erste Fassung von 2019 durch eine Richtline der Europäischen Union, die die Mitgliedstaaten verpflichtete, Klimaschutzgesetze zu formulieren, erzwungen worden war. Die damalige Bundesregierung unter der sogenannten Klimakanzlerin hat daraus eine relativ weiche Sache gemacht. Jetzt haben wir etwas, was dem Standard der Europäischen Union entspricht – das aber bedeutet, dass wir bis 2030, also innerhalb der kommenden acht Jahre, die Emissionen im Durchschnitt um 65 % gegenüber dem Stand 1990 (bzw. um 46 % gegenüber den Emissionen im Jahr 2020) senken müssen.

Der sogenannte Sektor „Gebäude“, für den es im Gesetz eine explizite Einsparvorschrift gibt, die einer Kontingentierung gleichkommt, steht für die Aufbereitung der Raumwärme, Warmwasser und Elektrizität, nicht aber für das Herstellen und nicht für das Um- und Rückbauen der Gebäude. Um die Emissionseinsparziele für den Sektor Gebäude bis 2030 durch den Ausbau von häuslichen Verbrennungsanlagen zu erreichen, müssten pro Jahr 880.000 System ausgebaut und durch Wärmepumpen o.Ä. ersetzen werden. Das überschreitet die Kapazität der deutschen Installateure und Heizungsbauer deutlich. Und: Wärmepumpen sind zwar effektiver und emissionsfrei. Aber sie arbeiten mit Strom. Woher kommt dieser Strom? Aus der Nordsee wird er nicht kommen, weil man es über die letzten 10 bis 15 Jahre versäumt hat, die Leitungen entsprechend auszubauen. Windkraft- Anlagen vor der eigenen Haustür werden von vielen Bürgerinnen und Bürgern abgelehnt. PV-Zellen auf unseren Dächern können sie mit der Lupe suchen. Dann kommen lokale Baubehörden, die das aus städtebaulichen Gesichtspunkten heraus nicht wollen. Manche Leute sagen, das alles rentiere sich nicht, es rechne sich nicht, zumindest für mich nicht…und was mit den Enkeln ist… und ob das überhaupt so stimmt mit der Erderwärmung….

Stromlücke

Das führt aber dazu, dass wir nicht genügend Photovoltaik installiert haben, dass wir regional nicht genügend Windenergie erzeugen und dass wir durch die Einführung der Elektromobilität, durch den (absolut begrüßenswerten) Abbau von verbrennungsbasierten Heizsystemen einen riesigen Mehrbedarf an Strom haben, den wir nicht decken können, wenn wir nicht rapide umsteuern. Uns droht eine Versorgungslücke, eine Stromlücke.

Es gibt eine ganze weitere Reihe von Dingen, die von Einzelnen gewusst werden. Aber uns fehlt eine Zusammenschau all dieser Dinge. Deshalb habe ich mit dem Schreiben meiner Trilogie begonnen, weil ich es als meine Verantwortung gegenüber meinen Schülerinnen und Schülern ansehe, ihnen meine Erkenntnisse weiter zu geben und dabei die Dinge klar zu benennen. Meine Darstellungen können und werden nicht vollständig sein. Aber es ist eine erste Zusammenschau dessen, was ist und was man zu beachten hat und was die Basis allen weiteren Handelns ist. Wenn man vom Bauwesen spricht, muss man eben nicht nur wissen, wie viele CO2-Emissionen beim Verbauen von Holz entstehen -signifikant viele, übrigens- sondern man muss auch wissen, was die Stromlücke bedeutet, was sie für die Elektromobilität bedeutet, für das Umstellen unserer Verbrennungsanlagen im Heizungskeller.

Lösungskorridore

Es sind gigantische Aufgaben, die vor uns liegen. Manch ein Architekt wird vielleicht sagen: „Das sind typische Ingenieurprobleme. Was interessiert es mich, was Heizungskeller passiert. Ich gestalte das Haus, den Rest sollen die Ingenieure lösen“. So einfach ist es aber nicht mehr, denn wir haben ein integrales Problem vor uns. Ich schreibe gerade an Buch Nummer zwei, in dem ich versuche, Korridore zu skizzieren innerhalb derer Lösungsmöglichkeiten entstehen können, wenn sich alle darum kümmern. Das Herbeiführen solcher Lösungen muss eine gesamtgesellschaftliche Anstrengung sein. Die Lösungen bestehen nicht einfach darin, dass wir jetzt alle mit Holz bauen und nicht mehr mit Beton. Das funktioniert so oder so nicht. Wir brauchen neue Baustoffmixe, neue Fügetechniken, die vielleicht ein bisschen schwieriger herzustellen sind. Dann wird das ganze vielleicht teurer – aber dann baut man eben nicht mehr so große Häuser, schraubt den derzeitigen Wohnraum von 46 qm pro Kopf ein bisschen herunter. Das geht ja alles irgendwie, wenn alle wollen. Es geht um die Angemessenheit der persönlichen Lebensform. Das geht vom Essen über Wohnen bis hin zur Mobilität.

Wir werden Unmengen an persönlicher Energie verbrauchen, um die notwendigen Veränderungen herbeizuführen. Wir werden Widerstände erleben, gegen die die Corona-Proteste eine Kleinigkeit waren. Darüber müssen wir reden. Die Architekten müssen in diesem Diskurs eine Führungsposition einnehmen, weil sie zu den wenigen in unserer Gesellschaft gehören, die gelernt haben, disziplinenübergreifend zu denken. Heute ist es Gold wert, wenn man über die Disziplinengrenzen hinweg mit unterschiedlichen Schemata, Begrifflichkeiten und Wertevorstellungen denken und kommunizieren kann. Natürlich brauchen wir auch die Spezialisten. Aber für die vor uns liegenden Aufgaben benötigen wir zuvorderst den Generalisten. Auf dem dann folgenden Weg werden wir immer wieder Partikularinteressen berühren. Es wird immer irgendjemanden nicht passen. Aber das müssen wir überwinden.

Was würden Sie gern den jungen Architektinnen und Architekten, die in das Berufsleben starten, auf den Weg geben?

Hinterfragen Sie alles kritisch und nehmen Sie sich viel Zeit für sich persönlich, um nachzudenken. In unserer Welt nimmt man sich für sich persönlich häufig viel zu wenig Zeit für das eigene Denken. Man konsumiert Wissen und glaubt das Gesagte dann auch noch. Man kann aber die Probleme, die ich gerade angerissen habe, nicht durchdringen, wenn man nicht tage- und wochenlang darüber nachgedacht hat. Nietzsche hat gesagt, über Nihilismus könne man erst reden, wenn man ihn durchlebt habe. An anderer Stelle lässt er klar erkennen, wie furchtbar für ihn das Durchleben des Nihilismus war. Über das, was das Bauwesen und wir als menschliche Gesellschaft anders machen müssen, müssen wir viel nach- und vieles durchdenken. Das geht nicht an einem Nachmittag. Das ist harte Denkarbeit, die viel Zeit und persönliche Gespräche mit anderen braucht. Nichts hilft mehr, die eigenen Gedanken zu schärfen, als wenn man sie gegenüber einem anderen formulieren muss. Wenn meine Studenten angefangen haben, vor lauter Nervosität Dinge vorzutragen, die keiner verstand, dann habe ich häufig gesagt: „Das versteht kein Mensch und ich allemal nicht. Sprechen Sie doch bitte so, als hätten Sie genau drei Minuten Zeit und als müssten Sie es Ihrer Großmutter am Telefon erklären.“ Hat keiner gekonnt. Ich hatte das als Student auch nicht gekonnt. Aber darin liegt die Quintessenz, dass man alles so lange durchdenkt und dann auf das Wesentliche reduziert, dass man in der Lage ist, es einem Nicht-Fachmann oder einer Nicht-Fachfrau innerhalb von wenigen Minuten am Telefon verständlich zu erklären. Dann sind sie so weit.

Wie lautet Ihr Wahlspruch?

Man sollte nur das glauben, was man selbst verifiziert hat.

Vielen Dank für das Interview.

[1] Werner Sobek: non nobis – über das Bauen in der Zukunft. Band 1: Ausgehen muss man von dem, was ist. Stuttgart 2022, S. 18.

[2] Werner Sobek: non nobis – über das Bauen in der Zukunft. Band 1: Ausgehen muss man von dem, was ist. Stuttgart 2022, S.237.

[3] Werner Sobek: non nobis – über das Bauen in der Zukunft. Band 1: Ausgehen muss man von dem, was ist. Stuttgart 2022, S.240 ff.

[4] „Ist weniger mehr?“ – Vortrag im Literaturhaus Stuttgart zum Thema nachhaltige Architektur, 2021. Quelle: https://www.youtube.com/watch?v=tbNb-SgCyo8&t=2568s, aufgerufen am 8.2.2022.