20. April 2024

Interview mit Jessica Borchardt: „Folge der Natur, ob intuitiv oder geplant.“

Hamburg (ab) – Frau Borchardt, Sie haben das Architekturbüro BAID in Hamburg gegründet. BAID steht für die Initialen Borchardt, Architektur, Interior und Design. Ihr Team aus etwa 30 Architekten, Innenarchitekten und Produktdesignern ermöglicht eine ganzheitliche Planung und Realisierung eines Gebäudes bis hin zur Innenraumgestaltung.

Jessica Borchardt, Gründerin und Geschäftsführerin BAID (c) Heike Kölbl

Wie haben Sie zur Architektur gefunden?

Jessica Borchardt: Bereits auf dem Gymnasium mit Schwerpunkt der Bildenden Künste war mir klar, dass mir trotz Begabung der Mut zur freien Kunst fehlt. Aber es sollte ein Beruf werden, in dem ich meine Kreativität ausleben kann. Da mich Architektur schon immer gefesselt hat, war schnell klar, dass ich dieses Studienfach wählen werde.

Bei wem und wo haben Sie studiert?

Jessica Borchardt: Ich habe an der TU Braunschweig bei Meinhard von Gerkan studiert und an seinem Institut gearbeitet. Nach dem Studium hatte ich das Glück, eng an seiner Seite meine ersten beruflichen Erfahrungen sammeln zu können. Er war und ist noch immer mein Mentor. Die intensive Zusammenarbeit mit ihm hat meine Arbeitsweise, mein Bewusstsein und meine Haltung als Architektin nachhaltig geprägt.

In Ihrem Arbeitsalltag nutzen Sie Building Information Modeling (BIM), 3D Visualisierung, Augmented-Reality und 3D-Druck. Welche dieser neuen Technologien unterstützt Sie am effektivsten bei dem Realisierungsprozess von Projekten?

Jessica Borchardt: 3D Druck und die großartigen digitalen Visualisierungstechniken sind heute feste Bestandteile und unverzichtbare Instrumente der Architektur. Wir nutzen sie bereits in den ersten Entwurfsphasen bis hin zur Überprüfung der Proportion eines zu fertigenden Fassadendetails. Die Handskizze und der einfache Modellbau begleiten unsere Arbeit aber weiterhin und sind aus unserem Gestaltungsprozess nicht wegzudenken. Diese eher traditionellen Techniken verhindern, dass man sich nicht im Detail verliert. Sie unterstützen viel mehr dabei, die Entwurfsidee zu variieren, zu hinterfragen und das Ergebnis zu präzisieren.

BIM hat während der frühen Entwurfsphasen keine wirkliche Relevanz und wird erst in den späteren Projektphasen wichtig. Wir nutzen es vorrangig im Zusammenhang mit der Kostenermittlung sowie für die Ausschreibung. Es ist bei den meisten Vergabeprozessen mittlerweile ein fester Bestandteil, da es viele Vorteile für alle Realisierungs- und Nutzungsphasen, wie etwa für das Facility-Management, bringt.

Sie entwerfen und realisieren unter anderem Bürogebäude und beziehen den Innenraum in ihre Entwurfsplanungen ein. Wie sieht für Sie eine zukunftsfähige Büro- bzw. Arbeitswelt aus?

Jessica Borchardt: Viele Unternehmen sind durch die arbeitsrelevanten Folgen der Pandemie stark verunsichert. Wie verändert sich der Platzbedarf, bleiben meine Mitarbeiter weiterhin anteilig im Homeoffice, ist das offene Büro die richtige Antwort, oder wechseln wir wieder in die geschlossene Einzelbürostruktur? Alles Fragen, die sich maßgeblich auf den Flächenbedarf und die Bürostruktur eines Unternehmens auswirken, auf die es aber zu diesem Zeitpunkt noch keine verlässlichen Antworten geben kann. Vor der Pandemie war es unsere Aufgabe, architektonische Antworten zu finden, um die Kommunikation zwischen den unterschiedlichen Etagen eines Hauses und Bereichen des Unternehmens zu stärken. Heute hingegen gilt Homeoffice als große Verheißung. Vor vielen Jahren bereits war IBM in den USA der Pionier des Homeoffice. Flexible Arbeitszeiten, weniger Bürofläche, alles prima. Vor vier Jahren nun sah IBM gute Gründe dafür, all seine Mitarbeiter aus dem Homeoffice zurückgerufen. Qualitäts- und Zeitverlust durch mangelnde Kommunikation, Vereinsamung am Arbeitsplatz und erschwerte Teambildung waren die Hauptgründe für diese Entscheidung.

Das zukunftsfähige Büro muss also viel zu bieten haben und gleichzeitig flexibel sein. Der fest zugewiesene Arbeitsplatz verliert an Bedeutung und wird durch attraktive und anspruchsvolle Arbeitsorte abgelöst. Der mobile Arbeitsplatz oder auch das Homeoffice werden fortan – und ganz sicherlich auch nach der Pandemie – ein fester Bestandteil der Arbeitswelt bleiben. Insofern ist es umso wichtiger, für eine anregende und gute Büroatmosphäre zu sorgen. Einen Ort zu schaffen, auf den sich die Mitarbeiter freuen, der die richtige Ausstattung und das passende Umfeld für die jeweilige Tätigkeit bietet. Gerade hier gibt es keine Generallösung. Die Arbeitswelt eines Architekturbüros wird weiterhin anders aussehen als die Arbeitswelt einer Anwaltskanzlei oder einer Konzernzentrale. Der Wettbewerb um die besten Mitarbeiter wird weiterhin eine der größten Herausforderungen für die Unternehmen bleiben. Es entspricht unserer gelebten Erfahrung, dass die Ergebnisse guter und angemessener Architektur und Innenarchitektur auf diesem Gebiet für einen ausschlaggebenden Vorteil sorgen.

Welchen Herausforderungen muss sich zukünftige Architektur und Stadtplanung stellen?

Jessica Borchardt: Die gestrigen Themen sind auch die heutigen. Zum einen sehe ich das Thema Wohnraum. Die Metropolen verzeichnen seit Jahren einen enormen Zuwachs. Ein Ende ist nicht in Sicht. Schon Le Corbusier forderte in seinen Manifesten die Architekten zur Sparsamkeit und Schaffung bezahlbaren Wohnraums auf. Hier gilt es aber nicht, anspruchslose Wohnmaschinen zu schaffen, sondern attraktive Wohnorte mit Aufenthaltsqualität. Dabei, und mit Blick auf die Mietpreise, gilt es insbesondere auf Seiten des Gesetzgebers, ein auch wirtschaftlich verträgliches Augenmaß für die immer neuen Anforderungen und Richtlinien zur Errichtung und Sanierung von Wohngebäuden zu finden. Denn diese sind neben den Grundstückspreisen, die wesentlichen Kostentreiber.

Zum anderen wird uns das Thema Nachhaltigkeit und qualitätsvolle Architektur als wichtiger Baustein der Nachhaltigkeit beschäftigen. Betrachtet man diejenigen Gebäude, die eine durchschnittliche Lebensdauer bei weitem überschreiten, fällt auf, dass es Werke namhafter Architekten und guter Architektur sind. Der größte ökologische Nachhaltigkeitsfaktor einer Immobilie ist deren Langlebigkeit und flexible Nutzbarkeit. Zukünftig wird vor Abriss vermehrt die Umnutzbarkeit geprüft werden müssen. Hier können insbesondere Denkmalschutz und Baurecht eine unterstützende Rolle spielen. Im Neubau wird die Anpassungsfähigkeit an sich verändernde demografische Rahmenbedingungen, die unterschiedlichen Nutzungskonzepte eines Gebäudes zunehmend an Bedeutung gewinnen.

Dann sehe ich noch das Thema Entwicklung der Innenstädte. Der Einzelhandel in den Innenstädten braucht dringend neue Konzepte. Der Verlust an Vielfalt in den meisten Innenstädten begann schon lange vor Corona, sie wurde durch die Pandemie nur beschleunigt und dadurch augenfällig. Wie erwecken wir die alten großen „Konsumtempel“ mit neuem Leben? Wie muss sich der Nahverkehr wandeln und wie die Infrastruktur, um den geänderten Bedingungen und Bedürfnissen gerecht werden zu können? Die wahnsinnigen Preissteigerungen der innerstädtischen Flächen zollen hier ihren Tribut. Die fast ausschließliche Ansiedlung großer Ketten ist das Resultat. Ein zu einseitiger Blick auf die Aspekte der Rendite verhindern bisher einen dringend notwendigen Paradigmenwechsel. Es ist eine Überlebensfrage für diese Bereiche, welche neuen Strukturen hier folgen werden. Stadtplaner und Architekten müssen dafür nachhaltige Lösungen entwickeln.

Erzählen Sie uns die Geschichte zu dem Projekt, das Ihnen besonders am Herzen liegt. 

Jessica Borchardt: Beim Wettbewerb um den ALDI-Nord-Campus sind wir als junges Büro mit 30 Mitarbeitern gegen eine hochkarätige internationale Konkurrenz renommierter Architekturbüros angetreten. Diese Herausforderung – und unsere Unerschrockenheit – haben uns dabei geholfen, das Projekt „frank und frei“ anzugehen und nach einem starken Konzept zu suchen. Selbstverständlich hätten wir auch einfach eine perfekt organisierte, praktische und funktionale Firmenzentrale entwerfen können. Das aber können unsere Kollegen selbstverständlich auch. Sehr wahrscheinlich wären wir aber bei gleicher Qualität trotzdem nicht erfolgreich gewesen. Wer sollte sich bei vergleichbarer Qualität ausgerechnet für unser Büro entscheiden?

Wir hatten daher beschlossen, dem Auftraggeber ALDI-Nord zu dem Maßanzug zu verhelfen, der die neu formulierten Anforderungen des Unternehmens in Architektur abbildet. Diese sollte dem neuen Spirit genauso Rechnung tragen, wie dem Wunsch nach veränderten Organisationsformen. Das Thema der Drittverwendbarkeit spielte bei dieser Entwicklung keine Rolle. Eher war die Antizipation zukünftiger Bedürfnisse ein Thema, welches von Anfang an mitgedacht werden musste. Tatsächlich sind diese Reserven noch während der Bauphase aktiviert worden und der Gebäudekomplex wuchs mit dem zunehmenden Bedarf. Im Detail haben wir unser gesamtes Augenmerk bei der Konzeptfindung und im Entwurf auf die inneren Abläufe im Konzern gelegt. Das Resultat unseres Entwurfs kam so der spezifischen Struktur des ALDI-Nord Konzerns am nächsten. Zugute kam uns, dass sich die Entscheider sehr intensiv mit den eingereichten Entwürfen beschäftigten und die Qualitäten und Passgenauigkeit unseres Konzepts erkannt haben.

Skizze Projekt ALDI Nord Campus, Essen-Kray, BAID, Fertigstellung 2022 (c) BAID

Die oft beschriebene Idee der Schaffung eines „A“ (ALDI) gab es nicht. Das „A“ bemerkten zuerst die partnerschaftlich planenden Landschaftsarchitekten von WES. Über diese Herleitung waren wir anfangs nicht wirklich glücklich und haben alles mögliche versucht, dieses durch Alternativkonzepte zu vermeiden. Letztlich aber hat sich der Originalentwurf als idealtypisch durchgesetzt und wird nun glücklicherweise auch so realisiert.

Welches Projekt hat Sie am meisten herausgefordert? 

Jessica Borchardt: Ganz klar „Lingang New City“. Ein städtebauliches Projekt für eine 75 Quadratkilometer große Sattelitenstadt vor den Toren Shanghais. Ein Wettbewerb, den wir bei gmp mit mir als Projektleiterin an der Seite von Meinhardt von Gerkan während meiner Zeit in seinem Büro 2002 gewonnen haben. Als junge Architektin ein Projekt dieser Größenordnung, die Entwicklung einer Stadt für 800.000 Bewohner, zu leiten war natürlich fantastisch und herausfordernd. Die für unsere Verhältnisse unvorstellbare Geschwindigkeit der chinesischen Entscheidungsgremien spielte hierbei eine entscheidende Rolle und hat auch für mein späteres Verständnis Maßstäbe gesetzt. So hatte man gerade Seen und Flussläufe im grünen Gürtel gezeichnet und man konnte bei der Anreise aus dem Flugzeug sehen, dass sich diese bereits in der Umsetzung befanden.

Projekt Lingang New City, China, gmp Architekten, Bauzeit 2003-2020 (c) Heiner Leiska

Wie lautet Ihr Wahlspruch?

Jessica Borchardt: Folge der Natur, ob intuitiv oder geplant. Die Proportionen der Natur lösen bei den Menschen unabhängig von Herkunft und Erfahrung Wohlbefinden aus. Und es sind schließlich die Menschen, für die wir bauen.

Vielen Dank für das Interview.