27. April 2024

Interview mit Eike Becker: „..Ideen, die die Welt zum Besseren verändern könnten“

(c) Sebastian Wells 

Eike Becker studierte Architektur an der TH Aachen, der Universität Stuttgart und der École nationale supérieure d’architecture de Paris-Belleville. 1991 eröffnete er das Büro Becker Gewers Kühn & Kühn Architekten. 1999 gründete Becker zusammen mit Helge Schmidt das Büro Eike Becker_Architekten, das für superferente Architektur steht. Die zugrunde liegende Entwurfs- und Planungsmethode setzt sich intensiv mit städtebaulichen Aufgaben und gesellschaftlichen Entwicklungen auseinander, um die immer vielfältiger werdenden Ansprüche an zeitgenössische Urbanität zu verbinden. Zu den aktuellen Projekten zählt die neue Verlagszentrale der FAZ im Frankfurter Europaviertel. In Berlin realisieren Eike Becker_Architekten das sozialverträgliche Quartier WATERKANT in Spandau, ein genossenschaftliches Hochhaus-Ensemble in der Gropiusstadt sowie den Spreeturm am Ostbahnhof.
Eike Becker_Architekten arbeiten zurzeit mit 60 MitarbeiterInnen in ihren Büros in Berlin und Frankfurt. Das Büro wurde mit dem European Brand Award 2021 als markenstärkstes Architekturbüro in Deutschland ausgezeichnet. Eike Becker ist aktuell Mitglied des Beirats der Bundesstiftung Baukultur und des Innovation Think Tank des ZIA. Außerdem verfasst er für die Zeitschrift „Immobilienwirtschaft“ eine vielbeachtete Kolumne, für welche er sich mit den vielschichtigen Themen der Stadtproduktion auseinandersetzt.

Wie haben Sie zur Architektur gefunden?

Eike Becker: Vor einer Woche habe ich auf der Durchreise in Genf einen kleinen Umweg gemacht und stehe nach über 30 Jahren wieder vor dem Maison Clarté in der Rue Saint-Laurent. Das Wohnhaus von Le Corbusier von 1932 habe ich als Schüler zum ersten Mal gesehen. Ich plagte mich damals gerade mit Zweifeln über meine vor mir liegende Berufswahl: Medizin? Biologie? Oder doch Journalismus? Bei meinem ziellosen Gang durch die Stadt stieß ich dann auf dieses moderne Stahlgebäude. Ich war erschüttert und begeistert zugleich! Das Licht, das durch die Glasbausteine im Treppenhaus fiel, die riesengroßen Markisen vor den Fassaden, die filigranen Balkone, die delikaten Details! In dem Moment war mir klar: Das wollte ich auch machen! Ich will Architekt werden, ein Schöpfer, der solche Häuser baut. Ein Haus, eine Entscheidung, ein Beruf, ein Leben lang.

Bei wem und wo haben Sie studiert?

Eike Becker: Da ist ganz zu Anfang Gottfried Böhm zu nennen, der als Pritzker Preisträger im selbstgestricktem Wollpullover und schlohweissem Haar mit gebeugter Haltung in der rappelvollen Aula der RWTH Aachen mir als Erstsemester seinen Lebensweg nachzeichnete und eine demütige Bescheidenheit vorlebte. Oder Wolfgang Döring, der bei meiner ersten Entwurfsvorstellung schreiend mit „Nein, ich kann mir das nicht weiter anhören!“ aus dem Raum rannte und die Tür hinter sich zuknallte. Oder Heinz Büttner, der mir Paris, Le Notre, Le Vaux, Ledoux, Francois Mansard, Vaux le Vicomte lieben lehrte. Auch Heinz Bienefeld, mit dem ich auf seinem Bauernhof in Reinsberg arbeiten durfte und jeden Tag genau einen Espresso zu Mittag getrunken habe. Auch Paul Nagel, der Bildhauer, der als gläubiger Katholik niederkniete vor seinem Gott in der Kirche am Sonntag.

Nach dem Grundstudium besuchte ich die diversen Universitäten mit Architekturfakultäten in Deutschland und fuhr auf meiner Städtetour nach München, Berlin, Braunschweig, Darmstadt, Karlsruhe. In Stuttgart fand ich die besten Lehrer. Auch Frei Otto, den zweiten deutschen Pritzker Preisträger. Er hatte gerade das Sonderforschungsprojekt „Natürliche Konstruktionen“ ins Leben gerufen, war blitzgescheit und zelebrierte den Geniekult. Doch wirklich beeindruckt hat mich Klaus Humpert, Professor für Städtebau. Eine charismatische Persönlichkeit mit enormer Begeisterungsfähigkeit. Sehr zum Ärger von Frei Otto konnte er den Beweis erbringen, daß auch unsere heutigen modernen Großstädte natürliche Konstruktionen sind. Ein Skandal! Ansonsten sprach Humpert von Besetzen, Bewegen und Aufrichten, von Wegelagerern und der natürlichen Schönheit gekrümmter Straßen. Wir erforschten die morgendliche „Besiedlung“ des Uni Parkplatzes und fanden heraus, warum der Trampelpfad über die Universitäts Wiese Jahr für Jahr immer wieder genau an derselben Stelle einen Knick bekam.

In einem Pilotprojekt zur künstlerischen Architekturausbildung lernte ich über ein Jahr Aktzeichnen, Barockarchitektur in Italien und diverse künstlerische Entwurfsmethoden kennen. Durch das Erasmus Programm mit einem Jahresstipendium in Paris lernte ich auch die harte Seite des Lebens im Ausland kennen, wenn man die Sprache nicht perfekt spricht und die Menschen sich genervt abwenden. Klar, Französisch ist eine wunderschöne Sprache und warum soll man sich mit schlechtem Französisch die Laune verderben lassen. Aber auch, wenn keiner mit mir sprechen wollte, konnte ich dort die gesamte Architekturgeschichte von der Kathedrale in Beauvais bis zum Parc de la Villette an gebauten Beispielen diverse Qualitätskriterien genau studieren. Ein unfassbarer Schatz, der da zusammengetragen worden ist während der letzten 1000 Jahre in der Isle de France.

Zurück in Stuttgart konnte ich mit einem kleinen Vordach aus Windschutzscheiben vom Schrottplatz und einer Überbauung des Bahnhofs Zoo in Berlin mein Studium abschließen.

Wer oder was hat Sie als Architekt geprägt?

Eike Becker: Zum Beispiel die Kathedrale von Beauvais oder das Maison Lafitte von Francois Mansard, die Gartenanlage für das Château de Vaux-le-Vicomte von Le Nôtre, das Einstein-Haus in Caputh von Konrad Wachsmann, die Cité Radieuse von Le Corbusier, das Haus Heinze-Manke in Köln-Rodenkirchen von Heinz Bielefeld oder das Wohnhaus von Ray und Charles Eames.

Ich war fasziniert von Barockarchitektur und mir war klar, dass auch das größte Talent in Rom gewesen sein musste, um etwas architektonisch anständiges zu Hause hervorbringen zu können. Das Rom meiner Zeit damals war London mit der Architektural Association und den großartigen Architekturbüros von Norman Foster und Richard Rogers.

Sie waren damals die einzigen auf der Welt, die wussten, wie man Häuser zusammenschraubt. Wie man Häuser wie Autos baut. Und deshalb habe ich auch bei ihnen zwei Jahre lang gearbeitet. Zunächst bei Normen, dann bei Richard. Eine hilfreiche Erfahrung, sich mit solchen Persönlichkeiten auseinander zu setzen. Sie zu erleben, teilzuhaben an dem, was sie denken und wie sie handeln. Und sich dann zu entscheiden, es anders, auf die eigene Weise, zu machen.

NAMU Offembach (c) Eike Becker_Architekten

Sie leben und arbeiten seit den 1990er Jahren in Berlin. Wie beurteilen Sie die Stadtentwicklung Berlins seit der Wiedervereinigung. Was wurde und wird gut umgesetzt?

Eike Becker: Es gibt sie ja, die großartigen Gebäude hier in Berlin, die mich immer wieder begeistern. Ieoh Ming Pei mit dem Deutsche Historischen Museum, Sauerbruch Hutton mit dem GSW Hochhaus, Norman Foster mit der Kuppel auf dem Reichstag, David Cipperfield mit der Renovierung des Neuen Museums, Hans Kollhoff mit seinem Potsdamer Platz 1. Leider ist aber auch unglaublich viel Mittelmäßiges entstanden.

Welche stadtplanerischen Ziele muss sich Berlin aus Ihrer Sicht heute setzen? Wo besteht Nachholbedarf?

Eike Becker: Die Stadt muss die Mobilitätswende hinbekommen, klimaneutral werden, dabei offene und sozial verantwortlich bleiben und die Handelsstadt in eine Begegnungs- und Erlebnisstadt umbauen. Und mehr Experimente zulassen. Alles einzeln bereits Riesenaufgaben.

Der heutige Zustand der Stadt wird am Tempelhofer Feld deutlich. Das leere Gebäude des ehemaligen Tempelhofer Flughafens und die riesige, freie Fläche davor stehen für eine Gesellschaft mit wenigen Ideen und Ansprüchen über den Tag hinaus.

Mir geht es aber genau um diese Ideen. Die verbindenden Visionen einer Gesellschaft, die Bilder von sich und ihrer Zukunft entwickelt und nach ihrer Realisierung strebt.

Das Tempelhofer Feld könnte zum Symbol für diese sich neu erfindende Stadt werden. Für die, die bereits da sind und für die, die kommen. Ich sehe Berlin als offene Stadt, die gastfreundlich ist, als eine Willkommensstadt. Das Tempelhofer Feld könnte ein neuer Stadtteil werden. Ja, eine Stadt, in der die Straßen und Plätze nicht für Autos, sondern für Menschen gemacht sind. Eine Stadt, in der die Penthäuser nicht für Vermögende, sondern für die Wurzeln der 20.000 Bäume reserviert sind, die dort wachsen. Eine Stadt, in der die Dächer nicht für die Haustechnik vergeudet werden, sondern für einen Park aus tausend Dachgärten. Ein Gebirge aus den Gärten dieser Welt, die allen zur Verfügung stehen und Aussichten bieten, weit über Berlin hinaus.

Eine Stadt, die abwechslungsreiches, urbanes Leben mit lässigem Landleben verbindet. Eine Stadt, in der die Bürgersteige und Plätze für Kinder zum Spielen im Sand gemacht sind und für Jugendliche zum Ballsport und Ältere zum Boule und für Markthallen mit frischem Obst und Gemüse aus der Region. Eine Stadt, die nicht nur wenigen, sondern allen gehört. Auch denen, die noch gar nicht da sind. Eine Stadt, die eine Welt für Menschen, Tiere und Pflanzen vorlebt, die auch noch für die nächste, übernächste und überübernächste Generation zur Verfügung steht. Eine Stadt, die zeigt, wie das auch aus Holz gemacht werden kann und wie das alles klimaneutral produziert, gebaut und gelebt werden kann. Eine Stadt der freundlichen Menschen, die sich füreinander einsetzen, Anteil nehmen, sich respektvoll umeinander kümmern und ihre Freizeit miteinander verbringen in den Parks und Straßen und Plätzen, die kaum noch Ähnlichkeiten aufweisen mit den asphaltierten, lebensbedrohlichen Straßen und versiegelten Plätzen, die wir kennen. Eine Stadt, in der Platz ist für die unterschiedlichsten Wohn-, Freizeit- und Arbeitsbedürfnisse.

Eine Stadt, die den Raum bietet auch für so anspruchsvolle Modellprojekte, wie das bedingungslose Grundeinkommen. Und eine Stadt, in der die Unternehmen ihr Wirtschaften auf das demokratisch definierte Gemeinwohl ausrichten.

Beides Ideen, die die Welt zum Besseren verändern könnten. Ein Versuch ist es allemal wert.

The Garden (c) Jens Willebrand

Sie sind Mitautor einer Streitschrift mit dem Titel „Es ist höchste Zeit. Lasst uns streiten“ über die Visionen und Ziele der Immobilienwirtschaft. Was ist das wichtigste Streitthema und die dazugehörigen Lösungsansätze?

Eike Becker: Der Autor Christian Felber formuliert es so: „Unser jetziges Wirtschaftssystem steht auf dem Kopf. Das Geld ist zum Selbstzweck geworden, statt ein Mittel zu sein für das, was wirklich zählt: ein gutes Leben für alle.“

Wir Autoren der Streitschrift haben also die Frage gestellt: Wie würde eine Immobilienwirtschaft aussehen, wenn sie ihre Aufgaben für die Gesellschaft in vorbildlicher Weise annähme? Wenn sie sozial, ökologisch, nachhaltig, CO2-neutral, human, fair, gerecht, kreativ, demokratisch oder, in einem Wort, ethisch wäre?
Die Immobilienwirtschaft legt gerade durch die ungünstigen wirtschaftlichen Bedingungen eine Pause ein. Sie hat gerade viel Zeit. Diese Zeit muss sie nutzen, um über ihre Aufgaben und ihr Selbstverständnis nachzudenken. Sie muss klären für welche ökonomischen, ökologischen und sozialen Ziele sie sich einsetzen will. Denn sie wird ihrer Funktion, ihren Aufgaben, die sie für die Gesellschaft zu erfüllen hat, nicht in ausreichender Weise gerecht. Heute in der Krise noch viel weniger, als in den Boomzeiten.

Wo ist die Roadmap hin zu einer klimaneutralen Immobilienwirtschaft? Wo sind die Vorschläge für kostengünstigen, sozialverträglichen, durchmischten Wohnungsbau? Digitalisierung? Verwaltungsreform? Verfahrensbeschleunigung? Standardreduzierung? Modulares Bauen? Resiliente Lieferketten? Cradle to Cradle?

Auf all diese Fragen gibt es noch keine tatkräftigen Antworten. Spätestens dann, wenn die Wirtschaft wieder anspringt, müssen die Ziele aber klar formuliert und die Wege dorthin gefunden sein. Denn es reicht nicht mehr aus, im Kleinen Löcher zu stopfen und weiterzuwursteln.

Deshalb brauchen wir jetzt kritische und offene Diskussionen in allen Verbänden, Ausschüssen, Unternehmen, Kammern, Institutionen, auf regionalen Konferenzen und Workshops, branchenübergreifend, unter Beteiligung aller gesellschaftlichen Kräfte.

Also, lasst uns die Fakten auf den Tisch legen und klären, was jetzt zu tun ist. Und wer dafür zuständig ist. Wer ist für eine gelingende Stadtproduktion und Immobilienwirtschaft verantwortlich? So wie bisher geht es nicht weiter. Wir brauchen schnellere Fortschritte und größere Erfolge. Es ist die Aufgabe der Immobilienwirtschaft, dafür zu sorgen, dass die Gesellschaft in der Welt lebt, in der sie auch leben will.
Deutschland steht für freiheitliche Demokratie, Menschenrechte, Gleichbehandlung, Respekt und Toleranz.

Es ist die gebaute Umwelt, in der diese Werte gelebt werden. Es ist höchste Zeit für die Immobilienwirtschaft, dafür Verantwortung zu übernehmen. (Streitschrift)

Vielen Dank für das Gespräch.