Berlin (ab) – Frau Dr. Lemaitre, Sie sind Bauingenieurin, haben an der Universität Stuttgart studiert und zum Thema Leichtbau promoviert. Als Tragwerksplanerin haben Sie in den USA gearbeitet und waren als Projektleiterin für ein Forschungsprojekt über ressourceneffiziente Gebäude bei der Bilfinger Berger AG (heute Bilfinger SE) zuständig. Sie bauten anschließend die Deutsche Gesellschaft für Nachhaltiges Bauen mit auf und sind seit 2010 Geschäftsführender Vorstand. Heute ist die DGNB eines der größten Netzwerke Europas für nachhaltiges Bauen, zertifiziert Gebäude und Quartiere und vermittelt Wissen für die Umsetzung.
Wie sind sie zum Studium des Bauingenieurwesens gekommen?
Dr. Christine Lemaitre: Gebäude, Architektur, Städte haben mich schon immer interessiert. Am Bauingenieurwesen hat mir gefallen, dass es um die technischen Grundlagen geht und auch um die gesamte gebaute Umwelt, d.h. auch um Brücken, Türme, Tunnel bis hin zur Geotechnik.
Wer oder was hat Sie in Ihrer beruflichen Tätigkeit geprägt?
Dr. Christine Lemaitre: Im Studium war das sicherlich Prof. Jörg Schlaich. Ich durfte als studentische Hilfskraft an seinem Institut arbeiten; wir waren sein vorletzter Jahrgang. Am eindrücklichsten erinnere ich mich an ein Projekt, auf das er besonders stolz war: eine Brücke in Indien für die er anstatt des Nietens das moderne Schweißen als Fügetechnik durchgesetzt hatte. Damit konnte das Bauwerk von lokalen Arbeitskräften gebaut werden und die umliegenden Dörfer erhielten durch die Verpflegung der Arbeiter ebenfalls ein Einkommen. Damit leistete das Bauwerk auch schon während dem Bau einen positiven Beitrag für die Gesellschaft. So müssen wir Bauen und unsere gebaute Umwelt verstehen – ganzheitlich und eben auch als sozialen Beitrag. Aber natürlich hatte und habe ich durch meine Arbeit bei der DGNB und auch bei meinen früheren Stationen immer die Chance gehabt mit vielen tollen Menschen zusammenzuarbeiten. Zu diesen zählt sicher auch mein Doktorvater Werner Sobek, aber auch der langjährige DGNB Präsident Alexander Rudolphi. Von ihm lerne ich auch heute immer wieder Neues.
Was war der Auslöser dafür, dass Sie sich für mehr Nachhaltigkeit im Bauen einsetzten?
Dr. Christine Lemaitre: Neben den o.g. Erfahrungen im Studium war meine zweijährige berufliche Tätigkeit als Tragwerksplanerin in den USA ein Auslöser. Dort habe ich erlebt wie mit Materialien und Energie unglaublich verschwenderisch umgegangen wird – was am Ende nicht einmal zu qualitätsvollen Gebäuden führt. Die One-fits-all-Mentalität ist eines der Hauptprobleme im globalen Bauen, aber auch der exzessive Einsatz von Klimaanlagen, die mit einem komfortablen Raumklima nichts zu tun haben.
Was sind die wichtigsten Merkmale des nachhaltigen Bauens? Was zeichnet nachhaltiges Bauen aus?
Dr. Christine Lemaitre: Qualität und Zukunftsfähigkeit beschreiben für mich Nachhaltigkeit immer am besten. Hinzu kommt einfach das Richtige und Logische zu tun: Wenn wir vorausschauend und mit Sorgfalt planen und bauen, erschaffen wir Qualität und eine gebaute Umwelt, in der wir uns wohl und sicher fühlen können. Es geht doch um unsere Umwelt, die wir positiv gestalten müssen.
Sie sind Mitglied in internationalen und nationalen Organisationen, die sich um klimagerechtes Bauen und Betreiben von Gebäuden einsetzen. Wie steht Deutschland im internationalen Vergleich in der Umsetzung des nachhaltigen Bauens und einer zukunftsfähigen Stadtentwicklung dar? Welches Land oder welche Stadt hat für Sie eine Vorbildfunktion?
Dr. Christine Lemaitre: Das ist sicher eine der meistgestellten Fragen, aber ich weiß nicht, ob es immer darum gehen sollte, sich mit anderen zu vergleichen. Die Tatsache ist, dass Deutschland in Anbetracht der finanziellen und technischen Möglichkeiten weit hinter dem bleibt, was wir im Bereich des nachhaltigen Bauens erreichen könnten. Wer hier eine deutlich positivere Haltung als das „unser Bedenkenträgertum“ hat, sind die Dänen. Ich bin immer wieder begeistert und beeindruckt mit welcher Dynamik und gleichzeitig Freude und Begeisterung die dänischen Planer, aber auch Unternehmen Zukunftsaufgaben angehen. Dänische Architektur- und Ingenieurbüros sind ja mittlerweile auch international dafür bekannt und auch entsprechend tätig.
Um die Klimaziele zu erreichen, müssen Bestandgebäude saniert werden, damit diese bis 2045 klimaneutral sind. Wie sieht der Lösungsweg der DGNB aus?
Dr. Christine Lemaitre: Zunächst geht es darum, fakten- und datenbasierte Entscheidungsgrundlagen zu schaffen und im Anschluss die Optimierung der Gebäude über die Nutzungsdauer hinweg systematisch zu planen. Im ersten Schritt sind also Monitoring und Erfassung der tatsächlichen Verbrauchs- und damit Emissionswerte des Gebäudes gefragt. Auf dieser Grundlage sollte ein Klimaschutzfahrplan bis spätestens 2050 erstellt werden. Gemeint ist damit die strukturierte Planung der erforderlichen Maßnahmen auf dem Weg zur Klimaneutralität. Die Maßnahmen werden nach technischen und wirtschaftlichen Aspekten definiert und in eine sinnvolle Abfolge gebracht. Nicht zuletzt sollten die Ergebnisse und reduzierte CO2-Emissionen regelmäßig überprüft werden. Damit wird Klimaschutz für alle Akteure planbar und wirtschaftlich abbildbar.
Die DGNB ist Mitinitiator der Wissensstiftung (www.norocketscience.earth). Welches Ziel verfolgt die Stiftung?
Dr. Christine Lemaitre: Bei der Wissensstiftung geht es darum kostenfrei relevantes Basiswissen zur Verfügung zu stellen. In den letzten Jahren hat die Relevanz von Nachhaltigkeit und Klimaschutz stetig zugenommen. Damit stieg auch die Zahl der Studien und die Zahl weiterer verknüpfter Themen ist sehr hoch. Hier möchten wir Orientierung bieten. Wir brechen die Kernthemen pragmatisch herunter und stellen Inhalte so zur Verfügung, dass Personen, die heute im Beruf stehen erreicht und zum Engagement motiviert und aktiviert werden.
Welche Wünsche haben Sie an die im September 2021 neu gewählte Bundesregierung?
Dr. Christine Lemaitre: Ich wünsche mir, dass endlich auf die Fachexpertise der Personen gehört wird, die sich mit dem Bauen täglich beschäftigen. Klimaschutz sollte eigentlich kein Wahlkampfthema sein müssen. Gefragt ist das schnelle Handeln – hier muss die Politik endlich auf Architekten, Planer und die ausführenden Unternehmen hören. Stattdessen auf Lobbyorganisationen Rücksicht zu nehmen ist fatal. Wir sehen doch, dass uns das in all den Jahren nicht vorangebracht hat. Vielmehr wurden die bereits genannten wichtigen Themen immer nur verlangsamt und verkompliziert. Zu jeder Studie gibt es doch immer eine Gegenstudie – dabei sind die Themen in der Umsetzung nicht immer so komplex. Gefragt ist ganzheitliches, zukunftsorientiertes und qualitätsorientiertes Handeln. Im Grunde geht es darum, das Richtige zu tun.
Wie lautet Ihr Wahlspruch?
Dr. Christine Lemaitre: Klimaschutz ist keine Raketenwissenschaft, daher kann und muss jeder seinen aktiven Beitrag leisten.
Vielen Dank für das Interview.