12. Oktober 2025

EU-Vergaberechtsreform: Europaweite Losvergabe stärkt Mittelstand

© Bayerische Ingenieurekammer-Bau

Brüssel / Berlin / München (pm) – Der Binnenmarktausschuss des Europäischen Parlaments hat am 7. Juli 2025 seinen Bericht für eine parlamentarische Entschließung zur Reform der EU-Vergaberichtlinien vorgelegt. Der Bericht markiert einen potenziellen Paradigmenwechsel im europäischen öffentlichen Auftragswesen, weg vom reinen Preisdiktat hin zu Qualität, Innovation und Nachhaltigkeit. Die Bayerische Ingenieurekammer-Bau begrüßt den Bericht ausdrücklich, da diese Neuausrichtung insbesondere für die mittelständischen Ingenieurbüros in Deutschland erhebliche Chancen birgt.

Kernpunkte der Reform: Qualität vor Billig-Preisen und Stärkung für KMU

Der Bericht des Europäischen Parlaments sendet ein klares Signal: Öffentliche Ausschreibungen sollen künftig nicht mehr allein auf den günstigsten Preis fixiert sein. Stattdessen sollen soziale und ökologische Kriterien sowie Innovationsaspekte deutlich stärker gewichtet werden.

Die Abgeordneten argumentieren, dass anfänglich billige Projekte oft höhere Folgekosten durch Wartung, Umweltschäden oder mangelhafte Arbeitsbedingungen verursachen. Das Ziel ist es, das „beste Preis-Leistungs-Verhältnis“ in den Vordergrund zu rücken.

Ein weiterer zentraler Pfeiler der Reform ist die Stärkung kleiner und mittlerer Unternehmen (KMU). Dies soll durch eine flächendeckende Losvergabe erreicht werden. Große öffentliche Aufträge sollen demnach europaweit in kleinere, überschaubare Teil- und Fachlose unterteilt werden. Das soll es für KMU einfacher machen, sich an Ausschreibungen zu beteiligen, da sie sich auf ihre Kernkompetenzen konzentrieren können, ohne mit überdimensionierten Gesamtprojekten konfrontiert zu sein.

Ergänzend dazu zielt die Reform auf eine deutliche Vereinfachung der bisher über 900 Seiten umfassenden Vergabegesetze ab, um bürokratische Hürden abzubauen. Auch die Anpassung der Preisschwellen aufgrund gestiegener Baukosten wird befürwortet.

Piotr Müller, der Berichterstatter des Parlaments, betonte die Notwendigkeit der Reform: „Das neue öffentliche Vergabeverfahren sollte dazu dienen, Prozesse zu regulieren, und nicht dazu, alle möglichen politischen Maßnahmen umzusetzen. Deshalb schlagen wir eine Vereinfachung, eine echte Digitalisierung und transparente Regelungen vor. Neue Vorschriften müssen auf ihre Auswirkungen auf kleine Unternehmen hin überprüft werden – wenn sie kleinen Unternehmen die Teilnahme an Ausschreibungen erschweren, müssen sie geändert werden. Andernfalls werden wir mit einem System enden, das diejenigen ausschließt, die es am dringendsten benötigen.“

Konsequenzen für mittelständische Ingenieurbüros in Deutschland

Für deutsche Ingenieurbüros, die oft durch Spezialisierung und hohe Qualitätsstandards gekennzeichnet sind, ergeben sich aus der Reform vielfältige Konsequenzen.

Besserer Marktzugang durch Losvergabe

Die Losvergabe wäre der wohl größte Segen für den Mittelstand. Statt sich in riesigen Ausschreibungen gegen internationale Großkonzerne behaupten zu müssen, könnten Ingenieurbüros künftig gezielt einzelne Fachlose akquirieren.

Dr.-Ing. Werner Weigl, 2. Vizepräsident der Bayerischen Ingenieurekammer-Bau und Vorsitzender des Arbeitskreises „Vergabe“ der Bundesingenieurkammer, begrüßt den Bericht des Binnenmarktausschusses ausdrücklich: „Die Losvergabe, also die Aufteilung großer Aufträge in kleinere Lose, muss europaweit Standard bei öffentlichen Aufträgen werden. Denn aktuell können kleinere Ingenieurbüros mit wenigen Mitarbeitern den mit einer EU-Vergabe verbundenen Aufwand nicht stemmen.“

Auch Felix Pakleppa, Hauptgeschäftsführer des Zentralverbands Deutsches Baugewerbe (ZDB), begrüßt dies ausdrücklich: „Das sind gute Nachrichten aus Brüssel. Der Ausschuss hat sich klar dafür ausgesprochen, kleinen und mittleren Unternehmen den Zugang zu öffentlichen Aufträgen deutlich zu erleichtern.“ Er fügte hinzu: „Die Losvergabe hat sich in Deutschland bewährt und sorgt seit Jahren für fairen Wettbewerb und gute Preise für den Steuerzahler.“

Auch ZDH-Generalsekretär Holger Schwannecke sieht die Losvergabe als klaren „Türöffner“ für Handwerksbetriebe und damit auch für eng verwandte Ingenieurleistungen.

Wettbewerb über Qualität und Innovation

Die Abkehr vom reinen Preiswettbewerb würde bedeuten, dass auch kleinere und mittlere Ingenieurbüros, die hochwertige Planungen, innovative Lösungen (z.B. im Bereich digitale Planungsmethoden wie BIM, Energieeffizienz oder nachhaltige Bauweisen) und fundiertes Know-how bieten, besser zum Zug kommen.

Dies eröffnet die Chance, angemessene Honorare für qualitativ anspruchsvolle Arbeit zu erzielen und sich über Expertise statt über den niedrigsten Preis zu differenzieren.

Bürokratieabbau

Eine tatsächliche Vereinfachung der Vergabeverfahren würde den administrativen Aufwand für mittelständische Büros erheblich reduzieren. Weniger komplexe Formulare und klarere Regelungen sparen Zeit und Personalressourcen, die stattdessen in die eigentliche Planungsleistung fließen können.

Herausforderungen und Anpassungsbedarf

Neue Kriterien und Nachweispflichten

Eine stärkere Gewichtung von sozialen und ökologischen Kriterien würde bedeuten, dass Ingenieurbüros möglicherweise zusätzliche Nachweise oder Zertifizierungen erbringen müssen.
Hier besteht die Gefahr, dass, wie von Holger Schwannecke kritisiert, „zusätzliche Auflagen, wie eine verpflichtende Tarifbindung, Behörden wie Unternehmen überfordern und kleinen Betrieben den Zugang zu öffentlichen Aufträgen erheblich erschweren“ könnten, wenn die Umsetzung nicht praktikabel erfolgt. Büros müssen ihre internen Prozesse überprüfen und gegebenenfalls anpassen, um diese neuen Anforderungen effizient zu erfüllen.

Präferenz für In-House-Leistungen

Sollte die diskutierte Bevorzugung von Anbietern mit eigenen Mitarbeitern durchgesetzt werden, müssten Büros, die stark auf freie Mitarbeiter oder Subunternehmer setzen, ihre Organisationsstrukturen überdenken.

Gefahr nationaler Gegenmaßnahmen

Die deutschen Verbände äußern die Sorge, dass nationale Regelungen die positiven Impulse aus Brüssel unterlaufen könnten.

„Deutschland darf jetzt nicht den Fehler machen, im nationalen Recht gegenzusteuern und die Losvergabe zu schwächen“, mahnte Felix Pakleppa. Ingenieurbüros müssen daher die nationale Umsetzung der EU-Richtlinien genau beobachten.

Fazit und Ausblick

Der Bericht des Binnenmarktausschusses ist ein wichtiger, aber noch kein abschließender Schritt. Die EU-Kommission wird auf dieser Grundlage bis Ende 2026 einen konkreten Gesetzgebungsvorschlag vorlegen, dem ein umfassender legislativer Prozess im Europäischen Parlament und im Rat der EU folgt.
Für deutsche Ingenieurbüros bedeutet dies, dass sie sich weiterhin aktiv mit dem Thema auseinandersetzen sollten. Eine frühzeitige Anpassung an die absehbaren Änderungen, insbesondere im Hinblick auf Qualitäts- und Nachhaltigkeitsstandards, kann einen entscheidenden Wettbewerbsvorteil sichern. Gleichzeitig ist es wichtig, dass sich die Branche über ihre Verbände weiterhin für eine praxisnahe und mittelstandsfreundliche Umsetzung der Reform sowohl auf EU- als auch auf nationaler Ebene einsetzt.

Die Reform birgt das Potenzial, den öffentlichen Beschaffungsmarkt gerechter, effizienter und zukunftsfähiger zu gestalten – und damit eine echte Chance für Deutschlands mittelständische Ingenieurbüros, ihre Expertise und Innovationskraft voll einzubringen.

Autor:
Jan Struck, Geschäftsführer, Kommunikation – Marketing – Bildung, Bayerische Ingenieurekammer-Bau

Quelle: Bayerische Ingenieurekammer-Bau