26. April 2024

Ein Kulturgut verschwindet – tibetische Bauernhäuser

links: Steinhaus im Dorf Thame (Südansicht) im Distrikt Solu Khumbu in Nepal; rechts: Handzeichnung des gleichen Hauses aus identischer Perspektive © Herrle/Wozniak 2017

Berlin (pm) – In der Architektur selten gewordene Handzeichnungen dokumentieren volkstümliche Bauten in der Himalaya-Region. Einladung zur Ausstellungseröffnung und zum Symposium „Tibetan Houses. Vernacular Architecture in the Himalayas and Environs“ am 22./23. November 2018

Jede einzelne Dachschindel ist auf der Zeichnung zu erkennen, die Verzierungen der Holzfenster akribisch wiedergegeben, Unebenheiten in der Lehmfassade des Hauses sichtbar. Auch die Befestigungen der Gebetsfahnen auf dem Dach des Hauses und die Bearbeitung der Balken sind deutlich erkennbar. Nichts ist abstrahiert oder idealisiert. Es ist eine Handzeichnung eines Steinhauses in dem Dorf Thame, im Distrikt Solu Khumbu in Nepal.

Dieses Bauernhaus gibt es nicht mehr. Es wurde bei dem Erdbeben 2015 zerstört. Dass dennoch detailgetreue und maßstabsgerechte Zeichnungen sowie Fotos existieren, die einen Einblick geben, wie die Menschen in dem Haus lebten, verdankt sich dem Forschungsprojekt „Tibetan Houses. Vernacular Architecture in the Himalayas and Environs“ („Tibetische Häuser. Volkstümliche Architektur im Himalaya und Umgebung“). Das Projekt, das von TU-Professor em. Dr. Peter Herrle geleitet und von der Deutschen Forschungsgemeinschaft (DFG) von 2012 bis 2017 finanziert wurde, ist die Bestandsaufnahme eines kulturellen Erbes, das im Verschwinden begriffen ist.

Erstmals nun werden 100 originale Zeichnungen und Fotos tibetischer Bauernhäuser aus dem Forschungsprojekt öffentlich gezeigt.

Zeit: am Donnerstag, dem 22. November 2018, 18.30 Uhr

Ort: TU Berlin, Architekturgebäude, Straße des 17. Juni 152, 10623 Berlin, Forum im Erdgeschoss

Öffnungszeiten der Ausstellung für Besucherinnen und Besucher: Zeit: 23. November bis 6. Dezember 2018, Montag bis Freitag: 14.00–20.00 Uhr, Sonnabend: 10.00–14 Uhr

Der Eintritt ist frei.

Begleitet wird die Ausstellung von dem Symposium „Vernacular Architecture in the Himalayas. An endangered species?“

Zeit: am Donnerstag, dem 22. November 2018, 9.00–18.00 Uhr am Freitag, dem 23. November 2018, 9.00–13.00 Uhr

Ort: TU Berlin, Architekturgebäude, Straße des 17. Juni 152, 10623 Berlin, Forum im Erdgeschoss

Eine Anmeldung ist nicht erforderlich. Das Symposium findet in englischer Sprache statt. Weitere Informationen zum Symposium unter: http://www.himalayan-architecture.net/

 

Die Zeichnungen sind besonders. Keine wurde – wie heute üblich – mit einem Computerprogramm erstellt. „Jedes Blatt ist mit Tusche und Bleistift von Hand gezeichnet und somit ein Unikat“, sagt Anna Wozniak, wissenschaftliche Mitarbeiterin des Projektes. „Wir haben eine Technik wiederbelebt, die – wie die tibetischen Bauernhäuser auch – im Verschwinden begriffen ist. Sie wird an den Universitäten nicht mehr gelehrt.“

Tibetische Klöster, Tempel und Burgen sind gut erforscht. „Aber die volkstümlichen Bauernhäuser hatte die Wissenschaft bislang kaum auf ihrem Radar“, sagt Peter Herrle. Zu Unrecht, wie die Ausstellung beweist. Die Zeichnungen und Fotos dokumentieren die Vielfalt und Schönheit der bäuerlichen Architektur auf der tibetischen Hochebene und in den angrenzenden Gebirgszügen. Insgesamt wurden in dem Projekt 33 Bauernhäuser vermessen, gezeichnet, fotografiert, ihre Baukonstruktion analysiert und mit den Bewohnern Interviews geführt zu ihrer Lebensweise und zu ihrem Handwerk. Das Untersuchungsgebiet auf der tibetischen Hochebene erstreckte sich über 2500 Kilometer: von den zu China gehörenden Provinzen im Osten des Plateaus, über Bhutan, Nepal, die autonome Region Tibet der Volksrepublik China bis in die indische Region Ladakh im Westen des Hochplateaus.

Die Zeichnungen sind nun im Architekturmuseum auch für weitere Untersuchungen zugänglich

„An den Bauernhäusern lässt sich zum einen eine tiefe Religiosität ihrer Bewohner ablesen. Jedes Haus, auch das ärmlichste, hat einen Sakralraum. Und zum anderen ist eine Bauweise nachweisbar, in der viel – wie wir es heute formulieren – über Jahrhunderte entstandenes ökologisches, nachhaltiges Wissen zum Ausdruck kommt“, sagt Peter Herrle, der bis 2012 das Fachgebiet Habitat Unit am Institut für Architektur leitete. Gebaut wird mit dem Material, das in der jeweiligen Region vorhanden ist. Das kann in dem einen Tal Holz sein. Da findet man dann Blockhäuser, wie sie aus der Schweiz bekannt sind. Im nächsten Tal ist es Lehm und in wieder einem anderen Tal Stein. „In unseren Gesprächen haben wir erfahren, dass die Menschen sich der Vorzüge zum Beispiel des Baumaterials Lehm durchaus bewusst sind, weil die Verwendung des lokal vorhanden Materials unter anderem unkomplizierte Reparaturen ermöglicht. Sie wollen nicht immer gleich Lehm durch Zement ersetzen, der immer einfacher herangeschafft werden kann“, erzählt Anna Wozniak.

Was die Forschungen von Prof. em. Dr. Peter Herrle und seinem Team zeigen, ist, dass nicht von dem tibetischen Baustil gesprochen werden kann. „Das tibetische Haus gibt es nicht. Charakteristisch ist vielmehr ihre Verschiedenheit. Diese Vielfalt gründet darin, dass die Bauweisen der Häuser an die natürlichen Gegebenheiten und das jeweilige Mikroklima auf das Subtilste angepasst sind. In den Tälern, in denen es viel regnet, haben die Häuser geneigte Dächer, in jenen, wo es eher trocken ist, sind die Dächer flach und werden zum Dörren von Obst genutzt“, sagt Peter Herrle. Er hat dafür den Begriff der „vormodernen ökologischen Bauweise“ geprägt bezogen auf die Ressourcenverwendung und die generelle Einbettung der Lebensweise der Menschen in natürliche Kreisläufe. „Alle 33 Häuser, die wir dokumentierten, stehen für diese vormoderne Ökologie“, so Herrle.

Die Zeichnungen und Fotos sind im Architekturmuseum der TU Berlin archiviert und wurden dort digitalisiert. Das Architekturmuseum verfügt über ein deutschlandweit nachgefragtes Spezialwissen hinsichtlich der schonenden Digitalisierung von Skizzen, Zeichnungen, Bauplänen. „Einen besseren Ort für die Archivierung unseres Material konnten wir nicht finden“, sagt Herrle. Ein weiterer Vorzug des von Dr. Hans-Dieter Nägelke geleiten Architekturmuseums ist, dass die digitalisierten Bestände frei zugänglich sind. Damit stehen auch die gezeichneten „tibetischen Häuser“ weiteren Forschungen zur Verfügung.

Wenn Erdbeben die Häuser nicht zerstören, dann werden sie durch den Einzug der Moderne massiv verändert (Einbau von Plastikfenstern) oder sie verfallen, weil die jungen Menschen abwandern. Mit der Bestandsaufnahme dieses Kulturgutes verbinden die Wissenschaftlerinnen und Wissenschaftler deshalb auch die kleine Hoffnung, dass von diesem Forschungsprojekt ein Impuls ausgehen möge, Wege zu finden, wie die tibetische Art und Weise zu bauen in Zusammenarbeit mit den Menschen der Regionen bewahrt werden könnte, ohne ihnen moderne Entwicklungen vorzuenthalten. Es wäre eine Idee für ein nächstes Forschungsprojekt zu tibetischen Häusern.

Im Rahmen des DFG-Vorhabens ist auch eine reich bebilderte Publikation erschienen:

Peter Herrle, Anna Wozniak, Tibetan Houses. Vernacular Architecture of the Himalayas and Environs, Birkhäuser Verlag GmbH, Basel 2017, 300 Seiten, 79.95 Euro

Pressemitteilung: TU Berlin