Gastbeitrag – In einem aufschlussreichen Gespräch mit Peter Rummel, dem Director of Infrastructure Policy Advancement bei Bentley Systems, werden die aktuellen und zukünftigen Entwicklungen im Bereich des Abwassermanagements beleuchtet. Rummel gibt Einblicke in die Herausforderungen und technologischen Fortschritte, die das Abwasser als wertvolle Ressource in der nachhaltigen Stadtentwicklung positionieren. Er diskutiert innovative Ansätze zur Energie- und Ressourcenrückgewinnung und ihre Bedeutung für die Infrastruktur von morgen.

Wodurch sehen Sie den Image-Wandel von Abwasser begründet und welche Trends zeichnen sich für die Zukunft ab?
Peter Rummel: Abwasser hat historisch ein negatives Image und wird oft wenig beachtet. Unsichtbar im Untergrund bleiben seine wertvollen Ressourcen und Potenziale oft unerkannt und ungenutzt. Das Hauptaugenmerk der Abwasserbehandlung beschränkt sich auf den raschen direkten Abfluss, während intelligente und nachhaltigere Ansätze vernachlässigt werden. Aktuelle Starkregenereignisse haben das Thema wieder an die Oberfläche gebracht. Die Sportwelt hat bei den olympischen Schwimmwettbewerben live miterlebt, was passiert, wenn zu viel Regenwasser das Abwassersystem trotz aller Rückhaltebecken und Maßnahmen überfordert.
Regen gehört nicht ins Abwasser. Mit falschen Aufgaben überfordert, hat Abwasser kaum Gelegenheit bekommen zu zeigen, was alles in ihm steckt. Ohne Eintrag von Niederschlägen hat das Abwassersystem keine Kapazitätsprobleme, vielmehr wird Wasser im städtischen Umfeld sparsamer genutzt.
Unter prozesstechnisch optimalen stabilen Bedingungen entstehen innovative Ansätze zur stofflichen und energetischen Nutzung von Abwasser. Nachhaltigkeit und Kreislaufdenken bestimmen Innovationen und neue Zielsetzungen. Nur wer den Kreislauf bedenkt, kommt nachhaltig voran.
Wie ist das Abwassersystem im Vergleich zu anderen Netzwerken aufgestellt?
Peter Rummel: Die Bewertung unseres Abwassersystems ist differenziert zu betrachten. Die Anschlussquote der Haushalte und Betriebe liegt bei fast 100 Prozent. Für die wenigen Ausnahmen bestehen technisch und wirtschaftlich sinnvolle Lösungen. Im Vergleich zum Glasfaserausbau ist das beeindruckend.
Auch bei der Kapazität ist der Bedarf ohne Niederschläge aktuell und in Zukunft gut abgedeckt. Wo Abwassersysteme mit geringerer Auslastung rechnen dürfen, stehen Stromnetze vor erheblichen Problemen beim notwenigen Ausbau, angefangen bei Hochspannungstrassen bis hin zu Hausanschlüssen.
Weniger rosig sieht es beim Alter der Anlagen aus. Das Abwassersystem ist eines der ältesten Leitungsnetze und wurde oft lange vor Strom, Gas, Fernwärme oder TK-Netzen verlegt. Die Langlebigkeit vieler Komponenten führt dazu, dass Wartungsarbeiten oft von Mitarbeitenden durchgeführt werden, die weit jünger sind als die betroffenen Bauteile.
Noch düsterer steht es um die Lageinformation und exakte Geometrie des Abwassersystems. Schachtdeckel oder begehbare Abschnitte sind meist gut erfasst, aber bei den Leitungsabschnitten wird häufig zwischen bekannten Anschlusspunkten interpoliert bzw. spekuliert. Der 2D-Verlauf ist dabei meist korrekt, doch die Verlegetiefe beruht größtenteils auf Vorgaben für entsprechende Rohre. Nur ein geringer Teil ist tatsächlich eingemessen wie verbaut.
Selbst für den unveränderlichen Teil der Leitungsinformation lassen Genauigkeit, Digitalisierungsgrad und direkter Zugriff noch zu wünschen übrig.
Digitalisierung und Digitale Zwillinge sind in vielen Branchen etablierter Standard, warum hinkt die Abwasserbranche hier hinterher?
Peter Rummel: Nachhaltiges Wassermanagement gelingt nur dort, wo digitale Daten sauber fließen.
Digitale Zwillinge sind ideal für das Datenmanagement des Abwassersystems. Welche Daten sind für die jeweiligen Aufgabenstellungen erforderlich? Die Berechnungen zur Erweiterung des Abwassersystems in einem Neubaugebiet basieren auf der geforderten Kapazität und Informationen zur Lage und technischen Spezifikation des Bestandes. Diese Leitungsdaten ändern sich im Lebenszyklus nicht, deshalb liegen sie zumeist digital vor und stehen für hydraulische Berechnungen zur Verfügung. Für die Optimierung der Wartungsplanung und erforderlichen Arbeiten sind detaillierte Zustandsdaten notwendig. Die vorgeschriebenen Inspektionsintervalle sind weit angesetzt. Daher ist die Zustandsübersicht zum Netz lückenhaft und basiert auf unterschiedlich alten Daten. Doch eine maßgebliche Verbesserung der Datenlage ist in Sicht: Neueste Robotertechnik und KI optimieren die Datenerfassung und -auswertung.
Der Übergang vom reaktiven Schadensmanagement zur vorausschauenden Wartung (predictive maintenance) ist in greifbarer Nähe.
Das volle Potenzial des digitalen Zwillings entfaltet sich, wenn Betriebsdaten in Echtzeit fließen und ein Datenrückfluss zur Steuerung der Anlagen erfolgt.
In diesen drei Zeithorizonten benötigt der digitale Zwilling digitale Daten. Die Lage und technische Spezifikationen der Anlagen bleiben über die Lebensdauer weitgehend konstant, der Zustand wird in Jahres- oder Mehrjahreszyklen kontrolliert, bei Daten über Kapazitätsauslastung, Fließgeschwindigkeit, Fracht oder andere Parameter sind Messintervalle im Minutenbereich relevant.
Je größer die Investition in die Digitalisierung des Abwassersystems, desto mehr Rückgewinnung von Energie und Ressourcen ist möglich.
Welchen Beitrag kann Abwasser auf dem Weg zu Klimaneutralität leisten?
Peter Rummel: Ein wichtiger Schritt zur Klimaneutralität ist die Senkung des Energieverbrauchs der Anlagen. Pumpen und Kläranlagen haben einen erheblichen Anteil am kommunalen Strombedarf. Deshalb ist die Steigerung der Energieeffizienz unerlässlich. Durch den Austausch alter Komponenten kommt dieser Prozess zwar kontinuierlich voran, stößt aber mittelfristig an seine technischen Grenzen. Der Weg zur Klimaneutralität kann nur über positive Erträge in der Bilanz gelingen.
Unter Aufwendung von elektrischer Energie wird bei Abwasserwärmerückgewinnung – dem Prinzip der Wärmepumpe – zur Deckung des Wärmebedarfs von Verbrauchern einem Medium Wärme entzogen. Weit verbreitet sind Anlagen, die der Umgebungsluft Wärme entziehen. Nachteile sind der Platzbedarf an der Oberfläche, Geräuschemissionen und ein schlechterer Wirkungsgrad bei sinkenden Temperaturen. Die Wärmerückgewinnung im Abwassersystem ist mit einem höheren baulichen Aufwand verbunden, punktet aber bei allen drei Schwachstellen der bekannten „Vorgartenvariante“. Die Berliner Wasserbetriebe gehen sogar davon aus, fünf Prozent des Wärmebedarfs der Berliner Haushalte aus Abwasser rückgewinnen zu können.
Ergänzend zum direkten Entzug der Wärmeenergie aus dem Abwasser wird Klärschlamm zur Energieerzeugung genutzt. Die Verbrennung nachwachsender Rohstoffe ist klimaneutral, innovative Konzepte koppeln die thermische Nutzung mit der Abscheidung und Speicherung von CO2 (Carbon Capture and Storage) und generieren sogar Negativemissionen. Der Stadt Zürich gelingt mit diesem Verfahren ein entscheidender Schritt hin zur Klimaneutralität. Hamburg Wasser verfolgt mit der Erzeugung von Biogas aus Klärschlamm einen weiteren vielversprechenden Ansatz. Beide Methoden sind unabhängig von Sonne oder Wind und bieten somit bedingt steuerbare erneuerbare Energiequellen.
Der digitale Zwilling managt den Zugang zu den Ressourcen im Abwasser, sodass es sich vom Teil des Problems zu einem vielversprechenden Lösungsansatz für Klimaneutralität wandelt.
Sehen Sie Synergien mit anderen Ver- und Entsorgungsnetzen?
Peter Rummel: Nahezu jeder Haushalt ist ans Kanalnetz angeschlossen, im Gegensatz zum Glasfasernetz. FTTH (Fiber To The Home) heißt das Zauberwort, doch der Zeit- und Kostenaufwand schreckt Anbieter in weniger lukrativen Gebieten für die Verlegung der Kabel oft ab. Eine noch viel zu wenig genutzte Lösung ist, das Abwassersystem als Leerrohr zu begreifen und die Glasfaserleitung im Kanalrohr zu verlegen. Der Wegfall aufwendiger Tiefbauarbeiten schont Ressourcen und treibt den Breitbandausbau voran.
Bei der gemeinsamen Nutzung von Leitungsnetzen gibt es technische und regulatorische Grenzen, aber Synergieeffekte bei der netzübergreifenden Koordinierung von Tiefbaumaßnahmen sind möglich. Warum nicht das alte Abwassersystem sanieren, wenn die neuen Rohre für das Nahwärmenetz verlegt werden?
Voraussetzung für diese Form der Abstimmung sind digitale Daten, wobei die Vision sogar noch einen Schritt weiter geht: Es müssten nicht nur alle Daten der aktuellen Netze zentral vorliegen, sondern auch relevante Informationen über geplante Erneuerungen und Erweiterungen.
Mit einem neuen Denkansatz schließt sich der Kreis zum Regenwasser: Regen gehört nicht ins Abwassersystem, doch urbanes Niederschlagsmanagement benötigt umfassende Strukturen für Speicherung und Versickerung. Zukünftig könnten immer öfter Komponenten für das Niederschlagsmanagement in Tiefbaumaßnahmen für das Abwassersystem integriert werden, um Starkregen zu bewältigen und den Durst der Schwammstadt zu stillen.
Welche technischen und regulatorischen Aspekte bestimmen das Abwassernetz der Zukunft?
Peter Rummel: Die Zielvorgaben und der regulatorische Rahmen werden vom UN-Nachhaltigkeitsziel Nummer 6, dem Zugang zu sauberem Wasser und zu Sanitärversorgung, geleitet. Auf europäischer Ebene wurde nach über 30 Jahren die Überarbeitung der EU-Kommunalabwasserrichtlinie verabschiedet und die Länder müssen diese in den nächsten zwei Jahren in nationales Recht umsetzen. Eine perfekte Gelegenheit, die EU-Vorgaben zu ergänzen und zu verschärfen, um eine Vorreiterrolle bzw. Vorbildfunktion einzunehmen. Durch den ganzheitlichen, langfristigen Ansatz liefert die Nationale Wasserstrategie wichtige Ansätze für das Abwassermanagement im Wasserkreislauf.
Neu und nicht minder wichtig ist das Klimaanpassungsgesetz. Darin wird geregelt, dass Bund, Länder und Gemeinden Maßnahmen zur Anpassung an den Klimawandel vornehmen müssen, wobei Wasser und Abwasser eine zentrale Rolle spielen.
Technisch wird die Digitalisierung bei der nationalen Umsetzung der EU-Richtline verstärkt eingefordert. Eine bessere Datengrundlage wird die Nutzung von digitalen Zwillingen vorantreiben und KI wird den Schritt von erfolgreichen Pilotprojekten hin zum unverzichtbaren Helfer vollziehen. Lineare und zentrale Strukturen beim Abwassermanagement werden durch dezentrale Ansätze mit Fokus auf Wiederverwendung ergänzt. Die Natur kehrt in Form von grüner und blauer Infrastruktur in unsere Städte zurück. Dächer und Fassaden werden für Begrünung und Energiegewinnung genutzt. Digitale Zwillinge und Abwasser werden maßgeblich dazu beitragen, dass die erforderlichen Daten und ausreichend Wasser fließen.