25. April 2024

Casa Rossa, Einfach Bauen und Recyclinghaus sind die Finalisten beim Deutschen Nachhaltigkeitspreis Architektur

Düsseldorf/Stuttgart (pm) – Drei Gebäude haben es im Wettbewerb um Deutschlands renommiertesten Preis für nachhaltige Bauprojekte in die finale Auswahl geschafft: Casa Rossa in Chemnitz, das Projekt „Einfach Bauen“ im bayrischen Bad Aibling und das Recyclinghaus in Hannover. Der Deutsche Nachhaltigkeitspreis Architektur zeichnet zum neunten Mal Gebäude aus, die transformative Wirkung, Innovation und herausragende gestalterische Qualität verbinden. Der Preis wird am 3. Dezember 2021 gemeinsam von der Stiftung Deutscher Nachhaltigkeitspreis e.V. und der Deutschen Gesellschaft für Nachhaltiges Bauen – DGNB e.V. in Düsseldorf vergeben.

„Die drei Finalisten adressieren auf gelungene Weise drei wesentliche Herausforderungen, denen sich die Architektur- und Baupraxis heute und in Zukunft stellen muss“, erklärt DGNB Präsident Prof. Amandus Samsøe Sattler, der auch in diesem Jahr den Juryvorsitz übernahm. „Es geht zum einen um den intelligenten, sorgsamen Umgang mit unserem Gebäudebestand. Hinzu kommt eine ressourcenbewusste Bauweise, die die Möglichkeiten der Kreislaufwirtschaft ausschöpft. Und zuletzt um die Frage nach Suffizienz und mehr Einfachheit im Bauen.“

Drei Finalisten mit außerordentlichem Vorbildcharakter

Das Casa Rossa war ein altes, marodes Gebäude in Chemnitz, das wieder zum Leben erweckt wurde. Bei der Sanierung des Gründerzeitgebäudes kombinierten die Beteiligten die bestehenden Eigenschaften des Hauses mit den Ansprüchen der Gegenwart. Die Energiewerte und die Ansprüche an großzügigen Wohnraum wurden durch innovative Ideen erfüllt. Die Spuren der letzten Jahrzehnte blieben erhalten, wodurch das außergewöhnliche Objekt seinen Charakter bewahrte. Die Jury sieht in dem unkonventionellen Umbauprojekt eine Pionierleistung der Umbauwende.

Beim Projekt „Einfach Bauen“ in Bad Aibling wurden die drei Bausubstanzen Leichtbeton, Massivholz und Mauerwerk für drei identische Gebäude verwendet. Durch die monolithische Bauweise konnten bei „Einfach Bauen“ Baumaterialien reduziert werden und so ein überdurchschnittliches Recyclingpotenzial realisiert sowie Bauzeit und Kosten vermindert werden. Indem Konstruktion, Nutzerverhalten, Behaglichkeit und Raumklima über einen längeren Zeitraum vergleichend bewertet werden, liefert das Projekt wissenschaftlich fundierte Erkenntnisse über Einsparungen in der Gebäudetechnik. Über diese Impulse kann „Einfach Bauen“ aus Sicht der Jury zum Startpunkt für eine neue Bauentwicklung werden.

Das Recyclinghaus in Hannover ist ein Prototyp für experimentelles Bauen und gleichzeitig ein Reallabor, um neue Möglichkeiten und Potenziale des Recyclings auszutesten. Es handelt sich um ein zweistöckiges Einfamilienhaus, das nicht nur aufgrund seines Erscheinungsbildes bemerkenswert ist. Recycelte Materialien, bereits vorhandene wiederverwendete Baustoffe und recycelbare Bauelemente sind die Grundsubstanz des außergewöhnlichen Gebäudes. Die Jury sagt: eine vorbildliche Idee für ressourcenschonendes, nachhaltiges Bauen, die demonstriert, was heute bereits möglich ist.

Preisverleihung auch im Livestream verfügbar

Wer den Preis in diesem Jahr gewinnen wird, entscheidet sich am 3. Dezember 2021 im Rahmen des Deutschen Nachhaltigkeitstages in Düsseldorf. Wer nicht vor Ort teilnimmt, hat die Möglichkeit, die Preisverleihung live ab 11:30 Uhr im Stream über www.dnp.tv zu verfolgen. Gesucht wird der Nachfolger des in Holzhybridbauweise errichteten Wohnhochhauses SKAIO in Heilbronn, das den Deutschen Nachhaltigkeitspreis Architektur im vergangenen Jahr gewinnen konnte.

Weitere Informationen, alle Jurybegründungen im Detail sowie die Übersicht über die diesjährigen Jurymitglieder gibt es unter www.nachhaltigkeitspreis.de/architektur und www.dgnb.de.

Die Finalisten mit den ausgewählten Projektbeteiligten 

Casa Rossa, Chemnitz

Foto: BODENSTEINER FEST
  • Bauherr: Bodensteiner Fest Stroux GbR
  • Architekt: bodensteiner fest Architekten BDA
  • Objektüberwachung: Mathias Taube
  • Bauphysik: IB Kundisch

Jurybegründung:

Die Rettung des maroden, vom Einsturz bedrohten Gebäudes, der Umgang mit der vorgefundenen Bausubstanz und das respektvolle Weiterbauen bilden gemeinsam den Beispielcharakter der Sanierung des Gründerzeitgebäudes in der Blockrandstruktur in Chemnitz.

Nur durch eine Zwangsversteigerung konnte der vollständige Verfall des Gebäudes, 30 Jahre nach der Wende, verhindert werden. Eine mutige Entscheidung der Bauherren – ein Politologe und zwei Architekten – das Risiko einzugehen, die Ruine zu kaufen, mit dem Ziel sie wieder gebrauchstüchtig zu machen. Die Philosophie und Herangehensweise der Bauherren, führt zu einem eigenwilligen und besonders interessanten Umbaukonzept. Jenseits von bekannten Sanierungsergebnissen werden die Spuren der Veränderung über die Jahrzehnte sichtbar und führen zu einem außergewöhnlichen interessanten, ruppigen und vielleicht auch umstrittenen Ausdruck des Gebäudes.

Das historische Mauerwerk aus Reichsformat-Ziegeln von 1910 bestimmt Inneres wie Äußeres der Casa Rossa. Die Fassade wirkt wie entkleidet, alle Unregelmäßigkeiten werden sichtbar und formen das äußere Bild des Hauses zwischen den gut restaurierten Putzfassaden der Nachbargebäude. So wird die Fassade auch Symbol und Ausdruck der respektvollen, eigenwilligen Sanierung, die die Eingriffe und Veränderungen durch das Jahrhundert offen zeigt und somit den Gestaltungswillen der ArchitektInnen scheinbar hintenanstellt, um nur das Gebäude sprechen zu lassen.

Auch bauphysikalische Schwachstellen, wie an den Fensteröffnungen wurden durch unkonventionelle Eingriffe gelöst. Die gedämmten Fensterfutter geben dem Haus ein zeitgemäßes Element ohne den Gesamtcharakter zu beeinträchtigen.

Konstruktiv haben die Architekt*innen angemessen und zielführend agiert. Die zerstörten Holzbalkendecken wurden durch Ziegel-Einhangdecken ersetzt. An anderer Stelle abgebrochene Steine wurden für die Innenwände weiterverwendet. Die gedämmte Gebäuderückseite und das neu aufgebaute Dachgeschoss werden als Potenziale für die Erfüllung von Gebäude-Energiewerten, aber auch von zeitgemäßen Ansprüchen an großzügige Wohnraumgestaltung und Belichtung gesehen. Durch das Aufklappen der hofseitigen Dachform wird ein zweigeschossiger Raum mit Galerie hergestellt.

Die intelligente Konzeption und die unerschrockene Herangehensweise zeigen in vorbildlicher Weise den Umgang mit einer Gebäuderuine, von dem man nur hoffen kann, dass er Schule macht und als ernstzunehmende Alternative zur Luxussanierung gesehen wird. Die Ästhetik des Imperfekten und der minimalistische Ansatz machen die Casa Rossa zu einem Pionier der Umbauwende.

 

Einfach Bauen, Bad Aibling

Foto: Sebastian Schels
  • Bauherr: B&O Gruppe
  • Architekt: Florian Nagler Architekten
  • Begleitung: Forschungszentrum Einfach Bauen, TU München
  • Tragwerksplanung: merz kley partner
  • Energiekonzept: Transsolar KlimaEngineering
  • Bauphysik: Horstmann + Berger
  • Brandschutz: PHIplan

Jurybegründung: 

Eine wichtige Erkenntnis des vergangenen Jahrzehnts ist, dass der Ersatz ressourcenintensiver Baumaterialien durch nachwachsende Baustoffe und die lokale Gewinnung erneuerbarer Energien als Maßnahmen für einen Wandel zur CO2- Neutralität der Bauindustrie wohl nicht genügen wird. Dafür ist der weltweite Bedarf nach Gebäuden nach wie vor zu groß.

Effizienzgewinne gehen durch die steigende Bautätigkeit schnell wieder verloren. Eine globale Verbesserung des Energie- und Ressourcenverbrauchs der Bauindustrie bleibt in der Gesamtheit daher weit hinter den Erwartungen zurück.

Wenn uns der Wandel zu einer CO2-neutralen, gebauten Umwelt wirklich gelingen will, müssen wir lernen nicht nur konventionelle Materialien durch Ressourcenschonendere zu ersetzen, sondern von vornherein auf einzelne Schichten und komplizierte Haustechnik zu verzichten.

Neben der Reduktion von Material liegt im vereinfachten Aufbau ein wichtiger Schlüssel für schnellere Bauzeiten und damit geringere Baukosten. Ebenso ist eine verbesserte Recyclierbarkeit der Gebäude zu erwarten. Es muss uns daher gelingen, durch die kritische Prüfung der Sinnhaftigkeit unserer gewohnten Konstruktionsweisen Wege zu finden, um weniger zu verbauen: Einfacher zu bauen.

Mit dieser Fragestellung setzt sich das Projekt „Einfach Bauen“ in Bad Aibling in vorbildlicher Art und Weise auseinander. Drei identische Häuser wurden in Leichtbeton, Massivholz und Mauerwerk errichtet. Die jeweils einschichtigen Konstruktionen der monolithischen Wandbauweise bieten ausreichend Dämmung. Die gewünschte klimatische Trägheit wird über die große thermische Speichermasse erreicht. In bis zu 2600 Varianten wurde das Volumen und der Anteil der Fensterflächen optimiert, um die Heiz- und Lüftungstechnik auf ein Minimum zu reduzieren.

Neben der Konstruktion und Nutzung wurde auch die Recyclingfähigkeit der Gebäude untersucht. Durch die gewählte vereinfachte Bauweise ohne Fremdmaterialien wird ein überdurchschnittliches Recyclingpotential erreicht.

In diesem Langzeitprojekt tragen die Architekt/innen und Ingenieur/innen der Technischen-Universität München die aktuellen Entwicklungen in den Materialgruppen Holz, Ziegel und Beton zusammen. Neben der Konstruktion wird auch das Nutzerverhalten, die Behaglichkeit und das Raumklima über einen längeren Zeitraum bewertet, um Erkenntnisse über Einsparungen in der Gebäudetechnik zu erhalten.

Es werden die Möglichkeiten und Grenzen des Prinzips „Einfach Bauen“ wissenschaftlich fundiert betrachtet. Die Ergebnisse werden als Wissenstransfer über eine Website kommuniziert, sodass von dem Projekt wichtige Impulse in die deutsche Bauindustrie zu erwarten sind. Das Projekt „Einfach Bauen“ kann so zum Startpunkt für eine neue Bauentwicklung werden.

 

Recyclinghaus, Hannover

Foto: Olaf Mahlstedt
  • Bauherr: Gundlach GmbH & Co. KG
  • Architekt: CITYFÖRSTER architecture + urbanism
  • Tragwerksplanung: Drewes + Speth
  • Bauphysik: H2A – v. Heeren Habibi
  • Haustechnik: TGW GmbH
  • Vermessung: ahb Vermessung
  • Baugrund: Dr. Ing. Meihorst und Partner
  • Qualitätssicherung: IFB – Institut für Bauforschung

Jurybegründung: 

Das Recyclinghaus in Hannover, ein zweistöckiges Einfamilienhaus im Stadtteil Kronsberg in Hannover, ist ein Prototyp für experimentelles Bauen und zugleich Reallabor für neue Möglichkeiten und Potenziale verschiedenster Arten und Dimensionen des Recyclings. Das Recyclinghaus steht in beispielhafter Weise für die Verantwortung und Experimentierfreude von Bauherr/innen und Architekt/innen bei der dringend notwendigen Suche nach neuen Antworten auf die Reduzierung des Ressourcenverbrauchs und der durch das Bauen bedingten „grauen Energie“ im Neubau.

Das Gebäude basiert auf der Idee der erfinderischen Sparsamkeit und einer möglichst konsequenten Anwendung unterschiedlicher Prinzipien des ressourcenschonenden Bauens:

  • Einbau recycelter Materialien und Baustoffe (z.B. Gründung aus Recyclingbeton oder Fassadendämmung aus recycelten Jutesäcken)
  • Lokale Bauteilernte und Wiederverwendung gebrauchter Bauteile (z.B. Fenster- und Fassadenelemente, Holzbalken, Ziegelsteine, Badobjekte, ein Großteil davon aus den Gebäudebeständen der Bauherrin GUNDLACH)
  • Verwendung neuer, recyclingfähiger Bauprodukte (z.B. Rohbau aus leimfrei zusammengesetzten Massivholzelementen, die ohne Qualitätsminderung und ohne eine Beseitigung von Schadstoffen demontierbar und wiederverwertbar sind)
  • Berücksichtigung der Transportwege der Materialien und Vermeidung bzw. Wiederwendung der während des Bauprozesses anfallenden Materialreste

Durch die konsequente Anwendung dieser vier Prinzipien entstand der Prototyp eines Wohnhauses, das in anschaulicher und origineller Form zeigt, wie aus der konsequenten Umsetzung innovativer Ansätze des ressourcensparenden, kreislauforientierten Bauens neue Formen von Architektur entstehen können. Eine wichtige Rolle spielt dabei die außerordentliche detektivische und erfinderische Leistung des Aufspürens, Umformatierens und Neukombinierens unterschiedlichster Materialien als prozessbasierter Entwurfs- und Realisierungsansatz – von den Architekt/innen bezeichnet als Prinzip „Form follows Availability“.

Auch wenn die ästhetische Qualität des Gebäudes aufgrund des collagenhaften architektonischen Ausdrucks kontrovers diskutiert werden kann, gelingt es dem Projekt in überzeugender Weise, die bisher vor allem theoretisch diskutierte Ansätze des „Urban Minings“ in die Praxis zu übersetzen und zu zeigen, welche technischen und gestalterischen Möglichkeiten sowie Herausforderungen sich aus neuen Kombinationen und Verwendungen von recycelten bzw. recycelbaren Materialien ergeben. In Zusammenarbeit mit Partner/innen aus der Bau- und Materialforschung, der Tragwerksplanung, der thermischen Bauphysik und des Bauteilrecyclings wurden wichtige Erkenntnisse und Erfahrungen für zukünftige Recycling-Bauprojekte gewonnen und der Blick für das Machbare geschärft: Wie können wir zukünftig bauen, wenn wir den vorhandenen Gebäudebestand unserer Städte als riesiges Rohstofflager begreifen und die dort vorhandenen Baustoffe besser inventarisieren und einfacher verfügbar machen? Aufgrund seines ambitionierten und konsequenten Ansatzes, Architektur von ihrem Ende zu einem neuen Anfang anstatt als Abfall zu denken, kann das Recyclinghaus prototypisch für nachhaltige Innovation im Bauwesen gesehen werden.

 

Pressemitteilung: Deutsche Gesellschaft für Nachhaltiges Bauen – DGNB e.V.