Berlin (ab) – Das Verbändebündnis „Soziales Wohnen“ ist davon überzeugt, dass Deutschland vor einer „greifbaren Wende auf dem Wohnungsmarkt“ steht. In dem Verbändebündnis haben sich der Deutsche Mieterbund (DMB), die Industriegewerkschaft Bauen-Agrar-Umwelt (IG BAU) sowie die Caritas Behindertenhilfe und Psychiatrie (CBP) mit zwei Partnern der Bauwirtschaft – der Deutschen Gesellschaft für Mauerwerks- und Wohnungsbau (DGfM) und dem Bundesverband Deutscher Baustoff-Fachhandel (BDB) – zusammengeschlossen. „Unsere Schwerpunkte sind sozialer und bezahlbarer Wohnraum, sowie inklusives Wohnen“, eröffnet Robert Feiger, Bundesvorsitzender der IG BAU, die Konferenz des Verbändebündnisses. „Zum Jahresauftakt 2022 melden wir uns mit einem sozialen Weckruf zum Thema Wohnungsbau an die neue Ampelregierung.“ Wissenschaftlich begleitet wird das Verbändebündnis von dem Pestel Institut und dem Bauforschungsinstitut Arbeitsgemeinschaft für zeitgemäßes Bauen e.V. in Kiel.
„Nachdem die Zahl von Sozialwohnungen und bezahlbaren Mietwohnungen in den letzten Jahren immer weiter zurückgegangen ist, besteht nun mit den Wohnungsbauzielen im Ampelkoalitionsvertrag erstmalig die Chance für eine soziale Trendwende am Wohnungsmarkt“, so Robert Feiger. „Damit dies gelingen kann, brauchen wir einen Sonderfond Wohnen.“ Es stellt sich die Frage, wie 100.000 Sozialwohnungen, 60.000 bezahlbare Wohnungen sowie ausreichend viele behinderten- und altersgerechte Wohnungen geschaffen werden können?
Lukas Siebenkotten, der Präsident des Deutschen Mieterbundes, betont, dass es zu wenig Wohnung, vor allem in den Metropolen gebe, insbesondere im bezahlbaren Segment. „Mieterinnen und Mieter leiden besonders, weil die ständig steigenden Mieten die Antwort des Marktes auf diesen Mangel sind.“, so Lukas Siebenkotten. Allein auf den Markt zu vertrauen, helfe vor allen denjenigen nicht weiter, die sich die hohen Mieten nicht leisten können. „Ich bin sehr für den Markt, glaube aber, er benötigt in diesem Bereich die eine oder andere Korsettstange.“ Das beste Mittel gegen diese Situation ist der Bau von neuem, bezahlbarem Wohnraum und das Bezahlbarhalten der Wohnungen, die derzeit noch mit unterdurchschnittlichen Mieten angeboten werden. Das Ziel der Koalition, 100.000 zusätzlich geförderte Wohnungen zu errichten und weitere 60.000 bezahlbare Wohnungen aus den Bestand zu rekrutieren, werde von allen hier vertretenen Verbänden begrüßt. „Es muss dann allerdings auch entsprechend finanziell unterlegt werden.“
Welche Werkzeuge werden benötigt, um diese Ziele der Ampelkoalition zu ermöglichen? Matthias Günther, Vorstand des Pestel-Instituts in Hannover gibt dazu wissenschaftlich fundierte Anhaltspunkte.
Von 2011 bis 2021 hat die Bevölkerung zugenommen, ebenso wie die Bevölkerung im Ruhestandsalter. Die Erwerbstätigenzahlen steigen, sogar trotz Pandemie. „Wirtschaftlich sind wir gut durch die Pandemie gekommen“, so Matthias Günther. Bei der Auswertung der Wohnungsmarktsituation sieht man einen Bedarf an Wohnungen vor allem im Westen und Süden Deutschlands. 2020 fehlten 540.000 Wohnungen, 2021 fehlten noch rund 450.000 Wohnungen. „Der Rückgang des Wohnungsdefizits ist vor allem auf zwei Dinge zurückzuführen: die Zuwanderungen waren pandemiebedingt geringer als in den Jahren zuvor und wir reißen in Deutschland nahezu keine Wohnung mehr ab.“ Bei der Betrachtung der Entwicklung des Bestandes an Sozialwohnungen und der Mieterhaushalte werden im Jahr 2020 etwa 22 Millionen Mieterhaushalte verzeichnet, von denen etwa 50% Wohnberechtigungsscheine nutzen könnten. Es stehen aber nur 1,1 Millionen Sozialwohnungen zur Verfügung. „Das heißt, für jeden Zehnten Berechtigten steht eine Sozialwohnung zur Verfügung.“, so Günther. Zudem steigen die Kosten für Wohnungen. Die Zahl der einkommensarmen Menschen steigt trotz der positiven Beschäftigungsentwicklung. Auch die Zahl der schwerbehinderten Menschen hat zugenommen und die Wohnungsknappheit verhindert an vielen Orten das selbstbestimmte Wohnen von Menschen mit Behinderung.
Dietmar Walberg, Geschäftsführer der Arbeitsgemeinschaft für zeitgemäßes Bauen e.V. in Kiel berichtet, dass „wir in Deutschland die fatale politische Fehleinschätzung erleben mussten, Deutschland sei gebaut und der Wohnungsbau kein Thema mehr. Es ist diesem Land gelungen, das Bauen und speziell dem Wohnungsbau durch Gesetze, Vorschriften und Normen und sonstigen Dingen zu überfrachten. In einer Auswirkung, die dazu führt, dass wir seit dem Jahr 2020 bis heute faktisch die Bauwerkskosten verdoppelt haben.“ Dazu haben gesetzliche Verschärfungen beigetragen, aber auch die Steigerung der Materialpreise. Bei der Betrachtung der Baukostenentwicklung sei erkennbar, dass die Mehrwertsteuersenkung unmittelbar gewirkt habe. Bei der Betrachtung der Kosten für die Errichtung eines Mehrfamilienhauses in einem Ballungsgebiet kostet der qm Wohnfläche ohne Grundstück etwa 2.800 Euro. Die Einbeziehung des Klimaschutzes in den Neubau sei nicht geschenkt. Je höher der energetische Standard sein soll, desto höher die Kosten. Ausgehend vom gesetzlichen Mindeststandard GEG 2020 steigen die Mehrkosten auf einen Mittelwert von 61 €/qm Wohnfläche für ein Effizienzhaus 70, auf 163 €/qm Wohnfläche für ein Effizienzhaus 55 und 287 €/qm Wohnfläche für ein Effizienzhaus 40. „Der Anteil an Effizienzhäusern 40 im sozialen Wohnungsbau liegt bei 2 bis 3 Prozent. Mehr nicht.“, so Dietmar Walberg. Was machen die unterschiedlichen Effizienzhausklassen an Energieeinsparung für die Mieter aus? Die Mieter sparen zwar Energie ein, aber der Effekt werde geringer. “Das ist unser Dilemma.“ Eine Lösung ist das serielle Bauen, das allerdings nur 6% bei Geschosswohnungsbau der Fall ist. Dieser Anteil sei allerdings nicht aufbaubar, weil aufgrund von fehlendem Bauland innerstädtisch gebaut werde und man sich hier den Gegebenheiten anpassen müsse.
Matthias Günther betont, dass bei höherem Energiestandard, auch die Betriebsmehrkosten steigen. Ebenso wie die volkswirtschaftlichen Mehrkosten. Bei der Annahme des Baus von 100.000 60 qm Wohnungen über 30 Jahre betrachtet betragen die Mehrkosten eines Effizienzhauses 70 etwa 0,29 Mrd. Euro, eines Effizienzhauses 55 etwa 2,46 Mrd. Euro und eines Effizienzhauses 40 etwa 4,86 Mrd. Euro. Beim Neubau von 100.000 Neubausozialwohnungen errechnet sich ein Subventionsbedarf von 5 Mrd. Euro ausgeführt nach dem GEG 2020 bis 8,5 Mrd. Euro ausgeführt nach dem Effizienzhaus 40.
Darüber hinaus setzt das Bündnis „Soziales Wohnen“ eine weitere Zielmarke: 60.000 bezahlbare Neubauwohnungen pro Jahr – mit einer Kaltmiete von höchstens 8,50 Euro. Wohnungen also, die sich Haushalte mit mittleren und unteren Einkommen noch leisten können. Auch hierfür werde der Finanzminister in den kommenden Jahren zusätzliche Mittel für die Förderung bereitstellen müssen. Pro Jahr wären dies konkret: zwischen 1 Milliarde Euro bei aktuellem Energiespar-Standard (GEG-Haus) und 4,4 Milliarden Euro für den „technisch machbaren Spitzenwert beim Klimaschutz“ im KfW Effizienzhaus 40.
Um die Kosten beim sozialen Wohnungsbau zu senken, fordert das Bündnis eine rasche Reduzierung der Mehrwertsteuer von 19 auf 7 Prozent. Darüber hinaus müsse die Bundesregierung die im Koalitionsvertrag angekündigte Erhöhung der linearen Abschreibung von 2 auf 3 Prozent möglichst schnell umsetzen, fordert das Bündnis „Soziales Wohnen“. Ebenso wie ein weiteres Prozent für eine Sonderabschreibung beim Neubau von bezahlbaren Mietwohnungen. Allerdings nur für Regionen, in denen Wohnungsmangel herrsche. Die Mieten sollten dabei eine Obergrenze nicht überschreiten. Es sei dringend notwendig, an diesen „Steuer-Stellschrauben“ zu drehen, um mehr bezahlbare Wohnungen zu schaffen, so das Bündnis.
Preistreiber beim Neubau sei insbesondere auch das Bauland. „Bei Grundstückspreisen von 300 Euro pro Quadratmeter ist die Schmerzgrenze erreicht. Das ist der aktuelle ‚Bauland-Schwellenpreis‘. Liegen die Grundstückspreise darüber, haben der soziale und bezahlbare Wohnungsbau praktisch keine Chance mehr“, sagt der Leiter des Pestel-Instituts, Matthias Günther. Das Bündnis „Soziales Wohnen“ appelliert daher an den Bund und die Länder, vor allem aber auch an die Städte und Gemeinden, dem sozialen und bezahlbaren Wohnungsbau offensiv günstiges Bauland bereitzustellen.
Das Bündnis fordert zudem, einer bislang kaum zum Thema gemachten „Wohn-Diskriminierung“ entschieden entgegenzutreten. So sollen künftig 10 Prozent aller neuen, vor allem auch barrierefrei gebauten Sozialmietwohnungen betroffenen Gruppen zur Verfügung gestellt werden, die es besonders schwer haben, auf dem Wohnungsmarkt Fuß zu fassen. Dazu gehören nach Angaben des Bündnisses „Soziales Wohnen“ u.a. Menschen mit Behinderung, mit psychischen Erkrankungen, Haushalte, in denen ein Demenzerkrankter lebt, und benachteiligte Jugendliche. Ebenso Senioren, die von der Altenhilfe betreut werden, Menschen, die aus der Haft entlassen wurden, Wohnungslose, Bewohnerinnen von Frauenhäusern, Geflüchtete und Menschen mit einer Suchterkrankung.
In diesem Zusammenhang spricht sich das Bündnis „Soziales Wohnen“ dafür aus, bundesweit in allen Kommunen „Wohn-Härtefallkommissionen“ zu etablieren. Diese sollen von den Stadt- und Gemeinderäten eingerichtet werden und betroffene Gruppen als Kommissionsmitglieder beteiligen. Die Härtefallkommissionen würden dann, so das Bündnis, über das 10-Prozent-Kontingent der zu vergebenen Sozialwohnungen entscheiden. Damit werde vor Ort die Bedürftigkeit im Einzelfall geprüft und die Berücksichtigung sozialer Kriterien bei Wohnungsvergaben garantiert.
Quelle: Pressekonferenz vom 14.1.2022 und Pressemitteilung „Minimum 6 Mrd. Euro für die „soziale Ampel-Wende“ auf dem Wohnungsmarkt“ des Verbändebundnisses „Soziales Wohnen“