Von der klassischen Architektur über die Kreislaufwirtschaft bis hin zur eigenen Projektentwicklung: Gemeinsam mit Sofia Ceylan und Dr. Katharina Neubauer hat Annabelle von Reutern TOMAS – Transformation of Material and Space – gegründet, ein Unternehmen, das den Bestand als Ressource versteht und die Bauwende wirtschaftlich tragfähig machen will. Außerdem engagiert sie sich im Beirat des Verbands für Bauen im Bestand e. V. (BiB), der sich für Standards, Bildung und politische Rahmenbedingungen rund um nachhaltige Bestandsentwicklung einsetzt.
Im Gespräch geht es um ihren Weg von der Architektin zur Gründerin, um aktuelle Herausforderungen in der Immobilien- und Bauwirtschaft – und um ihre Rolle in einer nach wie vor männlich geprägten Branche.

Wie sind Sie zur Architektur gekommen?
Annabelle von Reutern: Ich bin in einen Architektenhaushalt geboren worden. Mein Urgroßvater hat 1927 ein Architekturbüro im Sauerland gegründet, das bis heute besteht und von meinem Bruder weitergeführt wird. Nachdem mein Vater mir kurz vor dem Abitur seine Alma Mater in Aachen gezeigt hatte, war für mich klar, dass ich den gleichen Weg einschlagen werde.
Wo und bei wem haben Sie Architektur studiert?
Annabelle von Reutern: So klar wie mir, war das der RWTH Aachen jedoch nicht. Erst im zweiten Nachrückverfahren bin ich dort gelandet. Der einzige für mich inspirierende Professor war Axel Sowa vom Lehrgebiet Architekturtheorie. Ich habe früh gemerkt, dass mich die kommunikative Seite der Architektur mehr interessiert als die konstruktive. So kam ich auch dazu, die Studierendenzeitschrift Reiff Live zu übernehmen und für einige Semester zu leiten. Für den Master bin ich dann an die TU Berlin gewechselt, habe meinen Fokus auf die Standort- und Projektentwicklung gelegt und hatte ein spannendes Semester bei Prof. Jörg Stollmann. Für ein Semester war ich dann noch an der ITÜ Istanbul und hatte dort die beste Zeit.
Wer oder was hatte den größten Einfluss auf Ihre berufliche Laufbahn?
Annabelle von Reutern: Ich denke, dass es eine Mischung ist aus einem transgenerationalen Auftrag; Wut auf die vorherrschende Ungerechtigkeit und eine große Begeisterung für Gestaltung.
Welche Erfahrungen aus Ihrer Zeit in der Architekturpraxis prägen Ihre Arbeit bis heute?
Annabelle von Reutern: Ich weiß, dass ich nie wieder CAD zeichnen oder ein Modell bauen will. Das hat mir noch nie Spaß gemacht. Ich bin zwar Architektin, aber sehe mich häufig selbst nicht so, weil die „echten“ Architektinnen ganz anders an Projekte rangehen als ich. Der Wunsch nach Unabhängigkeit von einem Bauherrn ist sicherlich aus dieser Zeit heraus entstanden.

Sie gelten als eine prägende Stimme für die Bauwende, zirkuläres Bauen und Bauen im Bestand. Was hat Sie dazu bewogen, gemeinsam mit Ihren Gründungspartnerinnen Sofia Ceylan und Dr. Katharina Neubauer TOMAS ins Leben zu rufen?
Annabelle von Reutern: Wir kennen uns schon seit dem ersten Semester und haben 10 Jahre lang in unterschiedlichen Bereichen Berufserfahrung gesammelt und Netzwerke aufgebaut, bevor wir alle „in-between-jobs“ waren und gemerkt haben, dass jetzt der Moment ist, etwas zu dritt auf die Beine zu stellen. Dabei haben uns die Themen Nachhaltigkeit im Sinne der Bauwende und sozial gerechtes Bauen verbunden. Wir wissen um unsere unterschiedlichen Kompetenzen und die machen uns stark. Wir wollen als Frauen mehr Raum einnehmen und anderen Frauen Raum geben. Das heißt auch Verantwortung für Immobilien zu tragen und zu investieren.
Wie sieht das Unternehmenskonzept aus – und wer ist die Zielgruppe?
Annabelle von Reutern: Wir verstehen uns als „sozialverträgliche Architekturunternehmung“, die durch regeneratives und zirkuläres Bauen zu einer sozialen und gerechten Gesellschaft beitragen will.
Wir wollen mit TOMAS positive Impulse setzen und zum Umdenken anregen, mit unseren Projekten die Bauwende vorantreiben und als gutes Beispiel vorangehen.
Gleichzeitig sehen wir uns als Multiplikatorinnen und Vernetzerinnen. Wir wollen unsere Punkte durch Öffentlichkeitsarbeit in Form von Publikationen, Vorträgen, Paneldiskussionen weitertragen.
Die Grundpfeiler unserer Arbeit sind Planung, Beratung und Lehre, wobei wir innerhalb der Architektur auch unterschiedliche Unternehmungen wie Projektentwicklung, Verbands- und Lobbyarbeit, Crowdfunding, Veranstaltungen und Aktivismus zusammenbringen.
Unser „TOMAS-Kreislauf“ besteht aus drei Schritten: TOMAS investiert, TOMAS transformiert, TOMAS aktiviert. Unser langfristiges Ziel ist, selbst Projekte zu entwickeln und darin alle drei Punkte zu verwirklichen.
Unsere Zielgruppe sind zum einen Bestandshalterinnen, die Leerstand reaktivieren wollen. Und zum anderen Frauen und Male Allies, die ihr Geld in sozialverträgliche und nachhaltige Immobilien platzieren wollen.

Welche Werte und Visionen stehen hinter TOMAS?
Annabelle von Reutern: Das Ziel ist, dass die gebaute Umwelt als erhaltenswerte Bausubstanz verstanden wird und dass wir als Baubranche die Bauwende geschafft haben. Es ist kein Geheimnis, dass unser Sektor Jahr um Jahr die gesteckten Klimaziele nicht einhält. Andere Sektoren sind da weiter. Wir wollen ein Beispiel sein, wie verantwortungsbewusst mit dem Bestand umgegangen werden kann und wie Immobilien wieder der Gemeinschaft dienen und vielen gehören. Besitz schafft Identifikation und damit Wertschätzung. Gebäude, die wertgeschätzt werden, werden gepflegt und genutzt. Das ist der beste Schutz vor Verwahrlosung und Abriss.
Der Name TOMAS wirkt bewusst „untypisch“ weiblich. Welche Haltung steckt dahinter?
Annabelle von Reutern: Der sogenannte Thomas-Kreislauf kommt von der Allbright Stiftung, die sich für Gendergerechtigkeit und Frauen in Führungsposition einsetzt. Der Kreislauf zeigt auf, dass in den Vorständen von DAX-Konzernen mehr Männer namens Thomas sitzen, als es Frauen insgesamt in dieser Ebene gibt. Der Kreislauf entsteht, weil Thomas dazu neigt, andere Menschen einzustellen, die ihm ähnlich sind – ein Muster, das von der verpflichtenden Frauenquote durchbrochen werden soll. Wir haben uns daher gedacht: Wenn der Name Thomas offenbar so erfolgversprechend ist, holen wir uns einfach unseren eigenen ins Boot. Das „H“ haben wir gestrichen und gesagt: Jetzt wird gehandelt! Wir praktizieren feministische Stadtreparatur unter dem Motto TOMAS kümmert sich – denn genau das hat Thomas mit H leider nicht getan.
Im Nachhinein haben wir noch zwei Bedeutungen erfahren. Zum einen ist St. Thomas der Schutzpatron der Architekt:innen und Zimmerleute. Das kann sicherlich auch nicht schaden. Zum anderen kann „tomas“ für „toxic masculinity“ stehen. Auch etwas, dass abgeschafft gehört.
Wie unterscheidet Ihr Euch von klassischen Projektentwicklern?
Annabelle von Reutern: Für uns steht an erster Stelle der Bestandserhalt und die Umnutzung zu einer sozialverträglichen Immobilie, die den Menschen dient, die darin leben oder arbeiten. Ich denke nicht, dass der Usus für die meisten Entwickler ist. Wir sehen neben der monetären Rendite auch die ökologische und soziale Rendite als interessant für Investorinnen.
Auf welche Assetklassen und Gebäudetypen fokussiert sich TOMAS bei der Projektentwicklung?
Annabelle von Reutern: Wir schließen nichts aus. Doch Büros sehen wir gerade als nicht unbedingt notwendig an. Uns interessieren vor allem neben Wohnraumschaffung natürlich alles aus dem Bereich Care und Datencenter.
Nach welchen Kriterien wählen Sie Projekte aus – und was ist für Sie ein Ausschlusskriterium?
Annabelle von Reutern: Wir wollen unsere Scheinwerfer auf jene Gebäude richten, die viele pauschal als wertlos abtun. Als „Schrottimmobilien“, die selbst noch im Abriss nur Kosten und Schwierigkeiten verursachen.
Wir interessieren uns mit TOMAS gezielt für leere Kaufhäuser, Bahnhöfe und Kirchen. Häuser, die andere als Schandfleck bezeichnen, sind uns am liebsten.
Ein Ausschlusskriterium ist eine unzureichende ÖPNV-Anbindung. Bisher ist jedoch noch jeder Ankauf an zu hohen Bodenpreisen gescheitert.





Welche Herausforderungen und Chancen sehen Sie in der Projektentwicklerbranche?
Annabelle von Reutern: Wir können eine Diskrepanz zwischen den Bedürfnissen der Gesellschaft und den Produkten der Entwickler erkennen. Da wird gerne mal für die Shareholder gebaut und nicht für die Mietenden. Es ist komplex. In der Immobilienbranche wollen viele Bedürfnisse vereint werden. Natürlich muss mit der Arbeit am Gebäude auch Geld verdient werden, doch zu welchem Preis? Die Herausforderung wird sein, wie der Bestand angemessen und finanziell machbar entwickelt werden kann. Dazu müssen auch bestehende Strukturen in der Finanzbranche hinterfragt werden.
Die Chance besteht derzeit darin, dass es durch die gestiegenen Zinsen und Baukosten so weit gekommen ist, dass sich etablierte Systeme nun bewegen müssen, um weiterhin am Markt bestehen zu können. Ich denke, es ist der richtige Zeitpunkt, um mit neuen Produkten und Ideen an den Markt zu gehen und sich zu vernetzen.
Welche Erfahrungen haben Sie als Frau in ihrer beruflichen Laufbahn gemacht?
Annabelle von Reutern: Gute und schlechte. Ich hatte immer wieder bereichernde Begegnungen mit Menschen, die mich aktiv gefördert haben. Es gab aber auch immer wieder Menschen, die versucht haben, mich zu bremsen. Denen war ich als Frau oft zu laut, zu viel und zu ambitioniert. Ich habe auch schon eine Situation erlebt, in der ich in einer Runde etwas erklärt habe und mir ein Mann sagte „Na, von einer Frau lässt man sich ja ungern etwas erklären.“ Natürlich wurde ich auch mehr als einmal körperlich und verbal sexuell belästigt. Der Gipfel der Unverschämtheiten war jedoch, als ein ehemaliger Chef zu mir sagte, es sei kein Wunder, dass mein Mann sich von mir getrennt habe, ich sei schließlich eine komplizierte Frau.
Sie sind Beirätin im Verband für Bauen im Bestand. Wo sehen Sie heute die größten Blockaden für Umbau statt Abriss – in der Gesetzgebung, im Markt oder in der Denkweise von Auftraggeber:innen?
Annabelle von Reutern: All das zusammen. Wir sehen in unseren Nachbarstaaten, dass viel mehr möglich ist. Dort sehen wir wie Baukultur, Nachhaltigkeit und Wirtschaftlichkeit Hand in Hand gehen. Es ist möglich. Von daher glaube ich, dass wir ein gesellschaftliches Problem haben, wie wir mit dem bereits vorhanden umgehen. Uns fehlt es an Wertschätzung und Fantasie, was möglich wäre.
Gibt es ein Motto, das Sie in Ihrer Arbeit leitet?
Annabelle von Reutern: Wer viel fährt, wird auch mal geblitzt.
Ein politischer Hebel mit Sofortwirkung?
Annabelle von Reutern: Novellierung der Abrissgenehmigungen. Ein Abriss darf nicht mehr einfach so möglich sein. Eine verbindliche CO2-Obergrenze der verbauten Materialien (wird mancherorts bereits gefordert) und so wird das Bauen mit Reuse-Materialien attraktiv. Eine Umbauordnung, die den Bestand nicht wie einen Neubau betrachtet.
Ein hartnäckiges Missverständnis über Kreislaufwirtschaft im Bauwesen?
Annabelle von Reutern: Der Einbau Cradle von Cradle Produkte in Neubauten und zu denken, die Sache wäre damit erledigt.
Ein Buch das Sie zuletzt inspiriert hat?
Annabelle von Reutern: Nach Mitternacht von Irmgard Keun. Sie schrieb es 1937 im Exil. Es geht um Nazi Deutschland und ist ein unangenehm reales Bild des damaligen Alltags. Als Deutsche mit Vorfahren, die teilweise aktive Nationalsozialisten waren, macht mir die Entwicklung der letzten Jahre große Angst. Wir bewegen uns kontinuierlich zurück zu einer hasserfüllten, ängstlichen Gesellschaft, die insbesondere die Errungenschaften im Bereich der Gleichberechtigung, Freiheit und Toleranz zerstört. Ich kann das nicht akzeptieren und versuche dagegen anzuarbeiten. Sich mit seiner eigenen Geschichte zu beschäftigen ist dabei essenziell, um die Fehler nicht zu wiederholen. Dabei empfinde ich auch das Verhalten Deutschlands im Israel-Palästina-Krieg als einseitig. Wir schaffen keine echte Aufarbeitung und denken es reicht „bedingungslos solidarisch“ zu sein, um Sühne zu leisten. Das ist oberflächlich und zu einfach gedacht.