10. Dezember 2024

Angie Müller-Puch und Maria Hirnsperger, Partnerinnen bei Behnisch Architekten, im Interview über das kreislaufwirtschaftliche Pilotprojekt „Wilhelmsburger Rathausviertel“ in Hamburg

In Hamburg-Wilhelmsburg entsteht auf dem Gelände der Internationalen Bauausstellung (IBA) ein zukunftsweisendes Wohnquartier, das als kreislaufwirtschaftliches Pilotprojekt konzipiert wurde. Das Projekt „Wilhelmsburger Rathausviertel“, gestaltet von Behnisch Architekten, verfolgt den ambitionierten Ansatz, ein durchmischtes Wohnquartier zu entwickeln, das nicht nur ökologische Maßstäbe setzt, sondern auch neue Wohnkonzepte in städtischen Räumen erprobt. Mit einer tiefgreifenden Integration von kreislauffähigem Material, zirkulären Planungsverfahren und angepassten Grundrisskonzepten wird das Quartier so entworfen, dass es sowohl umweltfreundlicher als auch lebenswerter ist.

Das „Wilhelmsburger Rathausviertel“ steht exemplarisch für einen ganzheitlich nachhaltigen Entwurfsgedanken, der über die reine Materialverwendung hinausgeht und die Wechselwirkungen zwischen Architektur, städtebaulichen Rahmenbedingungen und Bewohnerbedürfnissen in den Vordergrund stellt. Als Teil des EU-Forschungsprojekts CIRCuIT, das darauf abzielt, nachhaltige und kreislaufwirtschaftliche Strategien für den Bausektor zu entwickeln, ist das Projekt nicht nur eine lokale Antwort auf globale Herausforderungen, sondern auch ein Modell, das zeigt, wie zirkuläres Planen die Bauweise und Lebensqualität urbaner Umgebungen nachhaltig transformieren kann.

Maria Hirnsperger und Angie Müller-Puch, Partnerinnen bei Behnisch Architekten, zeigen sich für das Projekt verantwortlich.

Angie Müller-Puch und Maria Hirnsperger © Benisch Architekten
Angie Müller-Puch und Maria Hirnsperger © Benisch Architekten

Wie kamen Sie zur Architektur und wo haben Sie Ihr Studium absolviert?

Maria Hirnsperger: Seit jeher fasziniert mich, wie Räume entstehen – sei es durch Bäume, die fast den Boden berühren ,,kleine Wasserfälle, die Becken formen, oder von Tieren geschaffene Orte wie Ameisenhügel und Wespennester. Diese natürliche Formgebung inspirierte mich früh dazu, selbst Räume zu gestalten, dabei jedoch stets behutsam und ohne Zerstörung einzugreifen. Besonders prägte mich auch der Besuch eines Gymnasiums, das die allgemeine Hochschulreife mit einer handwerklichen Lehre kombinierte. Nach einer Ausbildung als Tischlerin entschied ich mich für das Architekturstudium an der TU Wien, das durch Auslandsaufenthalte und die Freiheit, meinen Interessen zu folgen, meine Einstellung zur Architektur nachhaltig geprägt hat.

Angie Müller-Puch: Ein Buch mit dem Titel „Faszinierende Bauwerke“, welches zu Schulzeiten zufällig in meinen Besitz kam, weckte in mir das Interesse an der Architektur, der Kultur und am Reisen. Nach dem Abitur habe ich mich dann für das Architekturstudium an der RWTH Aachen entschieden. Neben einem Auslandsjahr an der EPFL in Lausanne hatte ich die Möglichkeit Praktika im In- und Ausland zu absolvieren. Eine tolle Zeit, die meine Herangehensweise an Architektur bis heute prägt.

Als Architektinnen, die sich mit zukunftsweisenden und umweltfreundlichen Bauweisen auseinandersetzen, wie sehen Sie die Rolle des Architekten in der gesellschaftlichen Debatte über Nachhaltigkeit und Klimawandel?

Maria Hirnsperger: Für mich haben wir als Architektinnen und Architekten eine der größten Verantwortungen für die Zukunft. Wir beeinflussen wie, wo und wieviel gebaut wird. Durch unser Handeln können wir ganze Generationen prägen. Es ist entscheidend, ob Kinder ihre Schule später mit positiven Gefühlen wie „sicher, hell und angenehm“ verbinden oder ob negative Assoziationen wie „beängstigend, dunkel und unfreundlich“ entstehen. Ich bin mir im Klaren, dass wir nicht immer die endgültige Entscheidung treffen und nicht immer alles so gemacht wird, wie wir es uns wünschen. Wenn wir aber immer wieder neue Lösungswege aufzeigen, an innovativen Ideen arbeiten und an unseren Prinzipien festhalten, können wir einen größeren Unterschied machen, als man vielleicht denken mag.

Angie Müller-Puch: Für mich stellt sich nicht mehr die Frage, ob wir nachhaltig bauen, sondern wie wir die nachhaltigsten Gebäude schaffen können. In unserer Rolle als ArchitektInnen verstehe ich uns als ForscherInnen, AnwenderInnen und VermittlerInnen. Unsere Arbeit bei Behnisch Architekten ist von der Neugier getrieben, innovative und klimafreundliche Lösungen für die gebaute Umwelt zu entwickeln. Dabei gehen wir nicht dogmatisch vor, sondern betrachten jedes Projekt individuell, um die bestmögliche Lösung zu finden. Ein zentraler Aspekt ist es, alle Projektbeteiligten einzubeziehen und zu begeistern.

Können Sie eine kurze Einführung geben, wie das Konzept für das „Wilhelmsburger Rathausviertel“ entstanden ist und welche Hauptziele Sie mit diesem Projekt verfolgen?

Maria Hirnsperger: Der Wettbewerb für das Zirkuläre Bauen im „Wilhelmsburger Rathausviertel“ wurde als Werkstattverfahren mit insgesamt drei Workshopterminen durchgeführt. Dies gab uns die Möglichkeit uns grundlegend dem Thema Kreislaufwirtschaft zu nähern und das Jurygremium und die Bauherrenschaft Otto Wulff in unseren Entwurfsprozess zu involvieren. Über Recherchen zur Verfügbarkeit von wiederverwendbaren Materialien hinaus haben wir uns ausführlich den Vorteilen einer zirkulären Herangehensweise auf die Mobilität, das Wohnen und den Planungsprozess beschäftigt. Dieser holistische Ansatz hat die Jury am Ende überzeugen können.

Angie Müller-Puch: Der Wettbewerb für das Zirkuläre Bauen im „Wilhelmsburger Rathausviertel“ wurde als Werkstattverfahren mit insgesamt drei Workshopterminen durchgeführt. Dies gab uns die Möglichkeit uns grundlegend dem Thema Kreislaufwirtschaft zu nähern und das Jurygremium in unseren Entwurfsprozess zu involvieren. Über Recherchen zur Verfügbarkeit von wiederverwendbaren Materialien hinaus haben wir uns ausführlich den Vorteilen einer zirkulären Herangehensweise auf die Mobilität, das Wohnen und den Planungsprozess beschäftigt. Dieser holistische Ansatz hat die Jury am Ende überzeugen können.

© Behnisch Architekten, moka studio

Wie integrieren Sie kreislaufwirtschaftliche Prinzipien in die Planungsphasen des „Wilhelmsburger Rathausviertels“? Welche Herausforderungen sind dabei aufgetreten?

Maria Hirnsperger: Ein entscheidender Aspekt bei solchen Projekten ist die Logistik: Welche Materialien werden wann und wo benötigt, und stehen sie zum richtigen Zeitpunkt zur Verfügung? Die zeitliche Koordination von Angebot und Nachfrage, ohne auf große Lagerflächen angewiesen zu sein, stellt eine Herausforderung dar, die bereits zur Entstehung neuer Berufsfelder und Unternehmen führt. In diesem Bereich werden wir in den nächsten Jahren große Veränderungen erleben. Wir haben uns entschieden, eine flexible Struktur zu entwickeln, die durch ihre Verbindungen und Details mit verschiedenen Materialien kompatibel ist. Dadurch sind wir weniger abhängig vom exakten Vorhandensein eines bestimmten Fundes.
Viele der derzeit zur Verfügung stehenden Materialien sind nicht eins-zu-eins für eine Wiederverwendung geeignet. Hier haben wir uns darauf konzentriert, sie in eine Form zu bringen, die es bei einem erneuten Ausbau ermöglicht diese leicht erneut einzusetzen, dies trifft beispielsweise auf unsere Fassadenelemente zu.

Angie Müller-Puch: Das Zirkuläre Bauen im „Wilhelmsburger Rathausviertel“ ist allein durch seine Größe ein einzigartiges Projekt in Deutschland. Bei den meisten aktuellen zirkulären Bauvorhaben liegt der Fokus auf der Übertragung von Baustoffen aus Bestandsgebäuden in Neubauten. Hierbei wird der Entwurf oft an die verfügbaren Bauteile angepasst.
Schnell wurde klar, dass sich eine solche Vorgehensweise auf ein Großprojekt wie das Zirkuläre Bauen im „Wilhelmsburger Rathausviertel“ nicht übertragen lässt. So haben wir die Grundstruktur und die Höhe des Gebäudes derart angepasst, dass sie den Einsatz wiederverwendeter Baustoffe erlauben. Wir haben Orte für den Einsatz zirkulärer Materialien geschaffen und das Gebäude so konzipiert, dass es unterschiedliche Materialien, je nach Verfügbarkeit, aufnehmen kann. Alle Materialien sollen so gefügt werden, dass sie später rückgebaut und wiederverwendet werden können. Das zirkuläre Bauen muss von den ersten Konzeptüberlegungen bis zum Abbruch ein essentieller Bestandteil des Planungsprozesses werden.

© Behnisch Architekten, moka studio

Welche spezifischen kreislauffähigen Materialien werden im Projekt verwendet und wie tragen diese zur Nachhaltigkeit des Quartiers bei?

Angie Müller-Puch: Das Konzept für das Zirkuläre Bauen im „Wilhelmsburger Rathausviertel“ sieht eine Hybridkonstruktion aus wiederverwendeten, recycelten und nachwachsenden Baustoffen vor. Die Materialien kommen sowohl in der Primärkonstruktion, wie auch in der Fassade und im Ausbau zum Einsatz. Studien aus der Schweiz zeigen, dass die Wiederverwendung von Baustoffen einen sehr großen Einfluss auf die Klimabilanz von Gebäuden hat, da keine CO2-Emissionen durch die Herstellung entstehen. Essentiell ist hierbei auf die Transportdistanzen zu achten, da diese auch erheblichen Einfluss auf die Ökobilanz haben.

Maria Hirnsperger: Besonders haben wir Bereiche geschaffen, die durch eine geringere Anforderung den Einsatz von Reuse-Elementen ermöglichen. Ein konkretes Beispiel sind die freigestellten Fluchttreppenhäuser: Da sie von Luft umspült werden, kann auf eine Druckluftbelüftung verzichtet werden. Die dort verbauten Fenster dienen ausschließlich dem Schutz vor Wind und Wetter und müssen daher keine besonderen thermischen Anforderungen erfüllen. Dadurch können auch wiederverwendete Fenster eingesetzt werden, die die Standards für den Einsatz im Wohnbereich nicht erfüllen würden.

Inwiefern beeinflussen die städtebaulichen Rahmenbedingungen und die Grundrisskonzepte die Zirkularität des Projekts? Gibt es innovative Ansätze, die Sie bei der Gestaltung der Wohnungen verfolgt haben?

Maria Hirnsperger: In diesem Projekt beginnt die Zirkularität bereits bei der Wahl des Grundstücks, da es sich um eine städtische Konversionsfläche handelt. Hier wird ehemaliger Straßenraum in Wohnraum umgewandelt – eine optimale Ausgangslage für ein zirkuläres Bauprojekt. Den bereits bestehenden städtebaulichen Masterplan für das Grundstück haben wir dabei gezielt im Hinblick auf zirkuläres Bauen optimiert.

Angie Müller-Puch: Besonders an unserem Vorschlag für das „Wilhelmsburger Rathausviertel“ ist, dass sich die Wohnungen an die Lebensbedingungen der BewohnerInnen anpassen lassen. Unsere sogenannten Switch-Wohnungen passen sich ohne aufwendige Umbaumaßnahmen an die wechselnden Raumbedürfnisse an – sie wachsen und schrumpfen je nach Bedarf. Dadurch wird das Gebäude äußerst anpassungsfähig für zukünftige Entwicklungen und zugleich sehr nachhaltig. Denn neben der Bauweise spielen auch der Betrieb und der Flächenverbrauch eine wesentliche Rolle für die Nachhaltigkeit des Projekts.

Wie messen und bewerten Sie den Einfluss Ihres zirkulären Planungsansatzes auf die Lebensqualität der Bewohner und die Umweltfreundlichkeit des Baus?

Maria Hirnsperger: Für uns bedeutet Zirkularität mehr als nur den Einsatz bestimmter Materialien und lösbarer Verbindungen. Wir betrachten das Gebäude als einen Organismus, der sich an die sich wandelnden Bedürfnisse der Bewohnerinnen und Bewohner anpassen muss – auch an solche, die heute noch nicht absehbar sind und sich erst in zukünftigen Generationen entwickeln werden. So entsteht ein Ort, der zur Aneignung und fortwährenden Anpassung einlädt.

Angie Müller-Puch: Dies führt im Optimalfall zu einer starken Identifikation der Bewohnerinnen und Bewohner mit ihrer Umgebung. Es entsteht eine Nachbarschaft, die sich hilft und sich um den Erhalt der gemeinsam genutzten Flächen kümmert.

Das „Wilhelmsburger Rathausviertel“ wird als Pilotprojekt für kreislaufwirtschaftliches Bauen beschrieben. Wie planen Sie, die Ergebnisse und Erkenntnisse aus diesem Projekt zu dokumentieren und für zukünftige Projekte nutzbar zu machen?

Angie Müller-Puch: Bereits heute teilen wir die Erkenntnisse aus dem Werkstattverfahren im Rahmen von Vorträgen mit der Öffentlichkeit. Unser Traum wäre es jedoch, die Gelegenheit zu bekommen, die Ergebnisse im Rahmen eines Forschungsvorhabens zu evaluieren und dies dann einer breiten Öffentlichkeit, anderen Planungsbeteiligten sowie Universitäten zugänglich zu machen.

Maria Hirnsperger: Das gesammelte Wissen haben wir intern dokumentiert und nutzen es als Grundlage für zukünftige Projekte und Wettbewerbe. So stellen wir sicher, dass unsere Erkenntnisse kontinuierlich in unsere Arbeit einfließen und weiterentwickelt werden.

Gibt es bereits Pläne für weitere Projekte, die ähnliche kreislaufwirtschaftliche Ansätze verfolgen? Wie könnte das „Wilhelmsburger Rathausviertel“ als Modell für andere urbane Entwicklungen dienen?

Maria Hirnsperger: Das „Wilhelmsburger Rathausviertel“ zeichnet sich durch seinen holistischen Ansatz und die enge Zusammenarbeit mit einer Bauherrenschaft aus, die nicht nur entwickelt, sondern im wahrsten Sinne des Wortes auch selbst baut.
Aber wir setzen uns natürlich in all unseren Projekten intensiv mit den Prinzipien des zirkulären Planens und Bauens auseinander und bemühen uns, diese in möglichst vielen Bereichen zu implementieren. So achten wir beispielsweise auf den bewussten Erhalt von Bestandgebäuden, wie bei der Internationalen Schule Augsburg. Beim Bildungszentrum in Landshut, einem Pilotprojekt für ökologisches Bauen und Prozesswärmerückgewinnung, berücksichtigen wir von Anfang an die Rückbaubarkeit. Außerdem beschäftigen wir uns mit dem Konzept des „Einfach bauen“ beim Projekt Juchhof in der Schweiz.

Angie Müller-Puch: Wir glauben nicht, dass es ein Patentrezept für nachhaltiges Bauen gibt. Je nach Ort, Programm und Materialverfügbarkeit können unterschiedliche Herangehensweisen zu sehr klimafreundlichen Gebäuden führen. Zirkulär sollten aber alle Projekte gedacht werden, denn nur so können wir der zunehmenden Ressourcenknappheit und der Entsorgungsproblematik entgegenwirken.

Vielen Dank für Das Interview.